Das politische Europa ist da

Eine konservativ ausgerichtete europäische Regierung einerseits, ein Schattenkabinett der linken Opposition andererseits: Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise bildet sich allmählich eine funktionierende EU-Demokratie heraus, schreibt der französische Journalist Bernard Guetta.

Veröffentlicht am 9 März 2011 um 16:14

Die Europäische Union hat die Menschen derart enttäuscht und ermüdet, dass sie heute fasst unbemerkt vor sich hin vegetiert. Unfair oder nicht, Tatsache ist, dass es ein Fehler wäre, sie auf ein bürokratisches Überbleibsel einer verblichenen Ambition zu reduzieren. Der Finanz-Crash 2008 hat sie erschüttert. Dann drohten Staatspleiten in Griechenland und Irland. Die Union war gezwungen, auf die Krisen zu reagieren. Man kann darin aber im Gegenteil den Beginn eines politischen Europas sehen.

Kurz vor dem kommenden Treffen des Europäischen Rats am Freitag wurden die Vorschläge Deutschlands und Frankreichs zum gemeinschaftlichen Wirtschaftspakt am vergangenen Wochenende von den Konservativen und der Linken diskutiert. Die einen tagten in Helsinki, die anderen in Athen. Nicolas Sarkozy hatte das Prinzip und Angela Merkel den Inhalt durchgesetzt. Die Europäische Volkspartei (EVP), das konservative Lager, hat nicht viel dazu zu sagen gehabt, denn sie konnte kaum zwei ihrer politischen Spitzen widersprechen. Das linke Lager hingegen, die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE), hat den Text nicht nur als „geführt vom Willen Sparpolitik zu institutionalisieren“ und „unsere Sozialsysteme zu schwächen“ angegriffen, sondern ebenfalls Gegenvorschläge formuliert, die aus ihrer Sicht „sozial verträglich und ökonomisch glaubwürdig“ seien.

Entwurf für ein pan-europäisches Programm der europäischen Linken

Die SPE fordert unter anderem eine „Europäische Industriepolitik“, die mit zukunftsorientierten Investitionen Arbeitsplätze schafft; die Annahme gemeinsamer sozialer Standards, beispielsweise mit der Einführung eines Mindesteinkommens in allen EU-Ländern; die Einführung einer ökologischen Steuerpolitik und einer Finanztransaktionssteuer in Höhe von 0,05 Prozent, die „zusätzliche Einnahmen von 200 Milliarden Euro pro Jahr“ generieren soll; „die Emission von Eurobonds“, EU-Anleihen, die grenzübergreifende Projekte finanzieren und einen Teil der Schulden tilgen sollen; und zu guter Letzt fordert die SPE, dass die Finanzhilfen für die Schuldenstaaten neu verhandelt werden, um die Zinslast zu senken und die Laufzeiten der Kredite zu verlängern.

Die keynesianisch inspirierten Vorschläge der europäischen Sozialdemokraten sollen — ganz in der Tradition der reformistischen Linken — Wachstum fördern, die öffentlichen Haushalte durch steigende Kaufkraft und mehr Beschäftigung ins Lot bringen, den sozialen Zusammenhalt fördern, eine wirtschaftliche Angleichung aller EU-Staaten schaffen und die industrielle Entwicklung durch Staatsaufträge ankurbeln.

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Es ist der erste Entwurf für ein pan-europäisches Programm der europäischen Linken. Es konnte angenommen werden, da die sozial-liberale Strömung innerhalb der SPE durch den Crash der Wall Street und im allgemeinen durch das Comeback der Idee einer Marktregulierung zurückgegangen ist. Von Skandinavien über Großbritannien bis nach Deutschland sind die Sozialdemokraten allerorts zu ihren Grundfesten zurückgekehrt, während die Konservativen ihrerseits den eigenen Liberalismus im Zaume halten, in Berlin wie in Paris.

Das politische Klima hat sich gewandelt

Das politische Klima hat sich nicht nur gewandelt, sondern, viel wichtiger, die Idee einer gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik setzt sich innerhalb der EU immer mehr durch. Die Siebenundzwanzig sind sich über das Prinzip einer „gemeinsame Wirtschaftsregierung“ einig, ebenso über einen dauerhaften Rettungsschirm, der anfänglich zur Rettung Griechenlands vor dem Bankrott geschaffen wurde. Diese Entwicklung zeigt sich auch im deutsch-französischen Pakt-Vorschlag, dem nun die Linke mit ihrer eigenen Alternative entgegnet.

Hindurch schimmert, immerhin, dass die Union versucht, zu einer Demokratie zu werden, in der die Mehrheit (im gegeben Fall die Konservativen) eine pan-europäische Politik definieren, die von der europäischen Opposition kritisiert wird und der sie ihre eigenen Vorschläge entgegenstellt. Eine beginnende Metamorphose, die umso solider ist, als dass sie aus der Notwendigkeit geboren wurde und somit mehr ist als eine simple Willensbekundung. Eine Evolution, die paradoxerweise zu einer Schwächung der EU-Institutionen zugunsten der großen EU-Staaten führt, und der Linken in Deutschland und Frankreich, — die sich nach langem Zwist wieder annähern, sich heute sogar näher als je sind — gute Chancen verleiht, 2012 und 2013 wieder an die Macht zu kommen.

Man sieht es kaum und mag es kaum glauben, doch es ist wieder Bewegung in die Union gekommen. Nach dem Vorbild der gemeinsamen Kabinettssitzungen der französischen und deutschen Regierungen, erklärten in Athen die französische PS und die deutsche SPD, dass sie ab sofort gemeinsame Sitzungen veranstalten werden. Dem, was quasi als europäische Regierung fungiert, wird ein Schattenkabinett, eine Art europäische Opposition, gegenübergestellt.

Aus dem Französischen von Jörg Stickan

Finanzen

EU-Parlamentarier für Transaktionssteuer

Am 8. März, mit 529 gegen 127 Stimmen, haben „die EU-Parlamentarier der europaweiten Einführung einer Finanztransaktionssteuer deutlich unterstützt“, berichtet die *F*inancial Times. Dennoch sei das Votum des EU-Parlaments nicht bindend, präzisiert die Tageszeitung. Für die EU-Kommission, die allein eine derartige legislative Maßnahme vorschlagen kann, sei dieser Vorschlag noch „verfrüht“. Bis zum Sommer werde die Kommission, wie die Financial Time hinzufügt, „ihre Schlussfolgerungen über die verschiedenen Optionen zur Besteuerung der Finanzmärkte bekannt geben. Es wird sowohl eine Steuer auf Finanzgeschäfte als auch die Transaktionssteuer geprüft.“

Von den EU-Ländern, erklärt Le Monde „verteidigen Deutschland und Frankreich schon seit langem das Prinzip dieser Steuer, doch andere Länder fürchten Kapitalflucht, sollte eine solche Maßnahme allein für die Eurozone gelten.“ Frankreich, das die Präsidentschaft des G20 innehat, plane, beim nächsten Gipfeltreffen die weltweite Einführung der Transaktionssteuer vorzuschlagen.

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