Merkel hat den Schlüssel

Wenn die Spitzenpolitiker der Eurozone am 11. März in Brüssel zusammentreten, um einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise zu finden, kann anscheinend nur eine einzige Frau das Auseinanderfallen der EU in zwei konkurrierende Blöcke verhindern. Doch ist Angela Merkel dieser Aufgabe gewachsen?

Veröffentlicht am 11 März 2011 um 14:27

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hält die Zukunft Europas in Händen. Als größtes Gläubigerland spielt Deutschland eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Staatsverschuldungskrise in der Eurozone. Der Wirtschaftsriese des Kontinents ist der größte richtungsweisende Faktor der Europäischen Union. Und derzeit sieht es aus, als könne Europa sehr wohl einen vom Wirtschaftsliberalismus wegführenden Kurs einschlagen und damit eine Aufspaltung und letztendlich sogar den Austritt Großbritanniens riskieren.

Frau Merkel scheint blindlings auf diese Gefahr hinzusteuern. Trotz aller ihrer gesunden Instinkte und politischen Kompetenzen scheint sie keine Perspektive für die EU zu haben. Sie war beklagenswert langsam, als es darum ging, die Schwierigkeiten der Eurozone in den Griff zu bekommen, weitgehend weil die deutschen Wähler schwache Länder wie Griechenland, Irland und eventuell Portugal nicht heraushauen wollen. Und in ihren Bemühungen, ihren Landsleuten zu versichern, dass sie den verschwenderischen Randstaaten teutonische Disziplin aufnötigt, lässt sie es zu, dass der Eurozone beim Aufbau der EU-Wirtschaftspolitik eine immer größere Rolle zukommt.

Wer verhindert das Zwei-Klassen-Europa?

Zwei Konferenzen illustrieren diese Woche diese beunruhigende Entwicklung. Auf das Gipfeltreffen der 27 Staats- und Regierungschefs der EU folgt ein Gipfel der Eurozone, bei dem zehn von ihnen wegbleiben. Dies mag wie ein obskures Detail der Brüsseler Prozeduren wirken. Historiker könnten es allerdings einmal als den Zeitpunkt ansehen, an welchem sich die EU in eine dominante, korporativistische Eurozone einerseits und eine kleinere, liberalere Außenzone andererseits aufspaltet. Merkel ist intelligent genug, das zu erkennen und zu missbilligen, war jedoch bis jetzt noch nicht mutig genug, es abzubrechen.

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Warum wäre ein offenkundiges Europa der zwei Geschwindigkeiten von Bedeutung? Die Briten verteidigen ihr passives Verhalten durch den Hinweis darauf, dass viele Strategien und Institutionen der EU nur funktionieren, weil sie nicht alle Mitglieder einbeziehen – der reisepassfreie Schengenraum, die Zusammenarbeit in Verteidigungsbelangen, das geplante EU-Patent. Sie behaupten weiter, dass die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof jegliche Gruppenbildung der Eurozone stoppen werden, wenn sie den Gemeinsamen Markt beeinträchtigt. Außerdem haben diejenigen, die „draußen“ sind, immer noch das Vetorecht über Dinge wie Steuer- und Sozialleistungsregelungen, falls diejenigen, die „drinnen“ sind, etwas versuchen wollten. Wenn die Eurozone eine Wirtschaftsregierung will, dann soll sie doch eine bilden, meint David Cameron: Uns wird das nicht berühren.

Liberale gegen weniger liberale Länder

Das ist kurzsichtig. Die Geschichte des europäischen Projekts ist angefüllt mit Beispielen von Strategien, die durch eine kleine Gruppe eingerichtet und später einer größeren Gruppe aufgezwungen wurden. Das fängt bei der Gemeinsamen Agrarpolitik an und geht über den Haushalt bis zu den sozialen Kapiteln und der Charta der Grundrechte. Andere Staaten, die „draußen“ sind, insbesondere Schweden, Polen und Dänemark, sehen dies klarer als Großbritannien und haben ärgerlich auf die (ursprünglich von Merkel abgelehnten) Andeutungen reagiert, die Spitzenpolitiker der Eurozone sollten in politischen Fragen mehr zu sagen haben und öfter zusammentreffen.

Dabei geht es nicht nur um Macht, sondern auch um eine Philosophie. Die Eurogruppe mit ihren 17 Staaten ist weniger liberal als die EU der 27. Die Unterscheidung ist nicht immer ganz eindeutig: Zum Euro gehören Liberale wie die Niederlande, Irland und Finnland, und zur Nicht-Euro-Gruppe weniger liberale Länder wie Ungarn und Rumänien. Doch der Schwerpunkt der Eurozone liegt auf der weniger liberalen Seite. Der „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ (heute der „Pakt für den Euro“) etwa, den Merkel und der Franzose Nicolas Sarkozy begünstigen, enthält das Konzept einer Harmonisierung der Körperschaftssteuersätze, was gewiss ein Schritt in Richtung harmonisierter Steuersätze ist.

Dem Euro beitreten oder die EU verlassen

Hätte eine Wirtschaftsregierung der Eurozone 2010 die britischen Einwände gegen strengere Hedge-Fund Regulierungen beachtet oder dem einmaligen Vorschlag von Sarkozy standgehalten, dass die regionalen Fördergelder für Länder, die dem „abträglichen Steuerwettbewerb“ frönen, gekürzt werden sollen? Würde sie ebenso hart dafür kämpfen, den freien Verkehr der Arbeitnehmer zu verteidigen? Würde sie jetzt eine stärkere Richtlinie fördern, um die Hindernisse des freien Dienstleistungsverkehrs niederzureißen?

All dies könnte diejenigen, die „draußen“ sind, vor eine harte Wahl stellen. Manche Länder mögen die Nase rümpfen und versuchen, dem Euro beizutreten, um wieder an Einfluss zu gewinnen. Doch Großbritannien schlüge sicher den anderen Weg ein. Ein weniger liberaler, durch den Euro dominierter Club könnte die Briten sogar dazu bringen, ganz auszusteigen. Was zweifellos den Euroskeptikern eine Freude wäre. Doch wenn Großbritannien dann noch irgendwelche Vorteile des Gemeinsamen Markts nutzen wollte, dann müsste es immer noch die meisten EU-Regelungen beachten (wie Norwegen es heute tut).

Merkel muss den Wirtschaftsliberalismus verteidigen

In der Vergangenheit widersetzte sich Merkel der Idee regelmäßiger Eurozonen-Gipfeltreffen, eben um sicherzustellen, dass die Briten, die Polen und die Schweden ihren Platz am Tisch hatten. Indem sie heute nachgibt, mag sie zwar die aktuellen Befürchtungen ihrer Wähler bezüglich des Euro beschwichtigen, doch der Preis für die Zukunft könnte sehr hoch sein. Falls die Eurozone zu einer größeren steuerlichen und wirtschaftlichen Harmonisierung übergeht, kann der ganze Club dadurch an Gleichgesinntheit mit den Liberalen verlieren – und somit auch an Anreiz sogar für diejenigen in Großbritannien (inklusive Cameron), die drinbleiben wollen.

Im Kern des europäischen Projekts herrscht seit langem eine Spannung zwischen dem Wirtschaftsliberalismus, der eine Öffnung auf die Welt begünstigt, und dem wirtschaftlichen Nationalismus, der eher eine Festung bevorzugt. The Economist vertrat hierbei schon immer im den erstgenannten Standpunkt, wie gewöhnlich auch Angela Merkel. Als Europas mächtigste Politikerin sollte sie klarstellen, dass die dieswöchige Konferenz der Eurostaaten ein einmaliger Notgipfel ist und nicht der Startschuss für etwas, das viel konstanter wäre – und viel schädlicher.

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

Aus Prag

Wenigstens versucht sie es!

Angela Merkel muss unterstützt werden, versichert Respekt. In der tschechischen Wochenzeitung ist Journalistin Kateřina Šafaříková der Meinung, der von der deutschen Bundeskanzlerin und Nicolas Sarkozy vorgeschlagene Pakt für Wettbewerbsfähigkeit sei „der Embryo einer europäischen Wirtschaftsregierung“. Die Botschaft aus Brüssel sei eindeutig: „Wir müssen zugeben, dass wir Europäer uns der Illusion hingegeben haben, dass wir auch ohne schmerzhafte Veränderungen immer reicher werden können.“ Im übrigen, so Respekt, seien da auch die Finanzmärkte, die uns daran erinnern, dass auch ein reiches westliches Land durchaus pleite gehen kann. Gewiss, „der deutsch-französische Vorschlag wird wahrscheinlich im Meer von Wörtern wie ‚Wandel’ und ‚Kompromiss’ untergehen. Er läuft Gefahr, zu einer neuen zahnlosen Strategie zu werden, wie schon andere ehemalige ‚Aktionsprojekte’ der EU, die ihr dazu verhelfen sollten, der beste Wirtschaftstiger der Welt zu werden“. Doch „im Festival der europäischen politischen Trägheit versucht Merkel wenigstens, etwas zu tun“. Um einen „strategischen Fehler“ zu vermeiden, sollte die Tschechische Republik Deutschland unterstützen, denn a) „sie geht damit kein Risiko ein“ und b) „sie hat kein besseres Angebot als das Willkommen in Berlin“.

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