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Dunkle Wolken über dem Mare Nostrum

Erst wurde er von Europa ignoriert. Dann wurden zahlreiche Versuche zur Integration des Mittelmeerraums unternommen. Jetzt geht eine neue Krise auf die südlichen Anrainerstaaten nieder, und es wird klar, dass wir am Mittelmeer umdenken müssen.

Veröffentlicht am 22 März 2011 um 15:30

In der Vergangenheit hat der Mittelmeerraum immer wieder Friedens- und Kriegszeiten erlebt. Die lateinische Welt war stolz, den Gebieten an der Nordküste eine außergewöhnliche Zeit geschenkt zu haben, nämlich die Pax Romana, möglicherweise die längste Friedenszeit in der Geschichte des Mare Nostrum. Und doch hat es auch unzählige Konflikte zwischen Staaten, Nationen, Religionen, Städten, Regionen gegeben – die übliche Chronologie der Ereignisse von den Anfängen bis heute sei der Langzeitgeschichte überlassen. Auch in unserer Zeit waren wir mit diversen Differenzen konfrontiert, die in Spannungen oder sogar in bewaffnete Konflikte ausarteten: Maghreb, Maschrek, Spanien, Griechenland, Zypern, Balkan, Ex-Jugoslawien, Palästina, etc.

Das Bild, das der Mittelmeerraum schon seit einiger Zeit bietet, ist kein ermutigendes. Die nördlichen Anrainerstaaten hinken in ihrer Entwicklung hinter Nordeuropa nach, die südlichen hinter den europäischen Mittelmeerländern. Im Norden wie im Süden findet das Mittelmeergebiet nicht wirklich Anschluss an das kontinentale Hinterland. Bisweilen war es wirklich unmöglich, dieses Meer als ein Ganzes zu betrachten, ohne die Kluft zu sehen, die herrschte, die Konflikte, die ihm auch weiterhin zu schaffen machen.

Europa von der „Wiege Europas“ getrennt

Bei der Gründung der Europäischen Union wurde die Spezifität des Mittelmeerraums nicht beachtet, und es entstand ein Europa, das von der „Wiege Europas“ getrennt war. Als ob sich ein Mensch entwickeln könnte, wenn man ihm seine Kindheit oder seine Jugend nimmt… Die banalen und ständig wiederholten Erklärungen konnten die, an die sie gerichtet waren, nicht überzeugen.

Wahrscheinlich glaubten nicht einmal die daran, von denen sie kamen. Die Kriterien, nach denen das nördliche Europa Gegenwart und Zukunft des Mittelmeerraumes beurteilt, stimmen schon lange nicht mit denen des Südens überein. Die Sichtweisen waren grundverschieden. In der heutigen Zeit hatten die beiden Mittelmeerufer schon vor dem jüngsten Krieg im Maghreb und im Maschrek nichts gemein als ihre Unzufriedenheit.

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Das Mittelmeer ähnelt schon lange einer Seegrenze von Ost nach West, die Europa von Afrika und Kleinasien trennt. Die sogenannte Identität des Seins, des Wesens, stellt nach wie vor eine schwierige und heikle Frage dar, während sich eine Identität des Tuns, also des konkreten Agierens, nicht recht entwickeln will und ihrem Zweck nicht gerecht werden kann.

Die „Heimat der Mythen“ litt an eigenen Mythen

Entscheidungen über das Schicksal des Mittelmeerraumes wurden außerhalb seiner Grenzen oder ohne seine Einbindung gefällt, was zu Frust oder auch Ängsten führte. Die Zerrissenheit ist seit jeher größer als die Gemeinsamkeiten. Es ist – nicht nur in unserer heutigen Zeit – ein historisch gewachsener Pessimismus erkennbar. Wir wurden mehrmals, auch an der Südküste der europäischen Staaten, Zeugen einer ganz eigenen Dämmerstimmung. Die Figur des Sisyphos ist vielleicht die einzige große mythologische Metapher, die im 20. Jahrhundert wiederaufgetaucht ist.

Das „mediterrane Bewusstsein“ erwachte immer wieder, man versuchte sich zu organisieren, dabei auch die afrikanischen Mittelmeerländer einzubinden. Aus den Forderungen entstanden in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Pläne und Programme: die Chartas von Athen, Marseille, und Genua, der Aktionsplan für das Mittelmeer und der „Plan Bleu“ von Sophia-Antipolis, der die Zukunft des Mittelmeers bis 2025 absteckte, die Erklärungen von Tunis, Neapel, Malta, Palma de Mallorca sowie die euro-mediterranen Konferenzen von Barcelona, Malta und Palermo. Diese an sich löblichen Bemühungen mit großen Zielen, die mehr als ein Mal von Regierungsausschüssen oder internationalen Institutionen angeregt und unterstützt wurden, haben aber nur wenige und dürftige Resultate erzielt, der Mittelmeerraum blieb auf der Strecke.

An der ausschließlich von der Vergangenheit ausgehenden Sichtweise wird weiterhin hartnäckig festgehalten – in den Mittelmeeranrainerstaaten wie auch im Binnenland. Die „Heimat der Mythen“ hat oft sehr unter diesen von ihr selbst geschaffenen oder von anderen genährten Mythen gelitten. Dieser so geschichtsträchtige Raum war oft Opfer des Historismus. Was nützte es da, resigniert oder verbittert immer wieder auf die Probleme hinzuweisen, denen die Küsten dieses Meeres auch weiterhin ausgesetzt waren? Nichts gibt uns das Recht, sie zu einem Zeitpunkt, in dem der Mittelmeerraum von einem Krieg mit noch ungewissem Ausgang erschüttert wird, zu verschweigen: Umweltschäden, skrupellose Verschmutzung, unkontrollierte Bevölkerungsentwicklung, „wilde“ Protestformen, Verfall und Korruption, fehlende Ordnung und mangelnde Disziplin, Lokalismus, Regionalismus und noch viele andere „-ismen“.

Angst vor Einwanderung macht noch keine Politik

Allerdings ist der Mittelmeerraum nicht allein für diesen Zustand verantwortlich. Seine besten Traditionen (die, die Kunst und Lebenskunst verbinden) wirkten dagegen, vielmals, doch vergebens. Wir mussten entmutigt zur Kenntnis nehmen, wie die Pläne der Konferenz von Barcelona und die Idee der Partnerschaft letztlich gescheitert sind. Präsident Sarkozys Versuch, eine neue Union für den Mittelmeerraum zu schaffen, wurde von Kontinentaleuropa (in erster Linie von Deutschland) mit Geringschätzung bedacht. Tatsächlich war der französische Vorschlag in großer Eile gemacht und kaum vorbereitet worden.

Der Mittelmeerraum präsentiert sich schon länger als Zustand, schafft es aber nicht, zum Projekt zu werden. Die Angst vor der Immigration aus den südlichen Anrainerstaaten allein reicht nicht aus, um eine vernünftige Politik auf die Beine zu stellen. Ebendiese Staaten haben durch die Erfahrung des Kolonialismus Vorbehalte. Beide Ufer spielten auf den Karten der Strategen eine wesentlich größere Rolle als auf denen der Wirtschaftsexperten.

So ist es auf etwas andere Art auch heute wieder – beim Krieg, der gerade im und um den Libanon ausbricht. Hoffen wir, dass er einen Teil der „Erniedrigten und Beleidigten“, die gegen Unrecht und Tyrannei aufgestanden sind, retten kann. Ob sich dadurch die Geschicke des Mittelmeerraumes wenden können? Das Mare Nostrum hätte es sich in jeder Hinsicht verdient.

Aus dem Italienischen von Salka Klos

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