NATO und EU, zwei trunkene Schiffe

Der Militäreinsatz in Libyen beweist eines: Die NATO ist nicht mehr in der Lage, den Lauf der Welt zu beherrschen. Und die EU ist nicht in der Lage, ihre Nachfolge anzutreten, und zwar aus den gleichen Gründen: Ihre Mitglieder sind gespalten und die USA halten sich zurück.

Veröffentlicht am 15 April 2011 um 15:56

Wir fahren mit Autopilot. Wenn sich nicht sofort jemand ans Steuer setzt, ist der Unfall nicht mehr zu vermeiden. Wir rasen direkt auf eine Kollision in der unebenen Topografie einer im Wandel begriffenen Welt zu. Derartige Turbulenzen hat es seit über 20 Jahren nicht gegeben – und damals gab es einen Steuermann und einen Kurs.

Nicht eine einzige internationale Zusammenkunft über die Lösung der Libyenkrise findet statt, ohne dass Unstimmigkeiten durchscheinen. Am 13. April konnte während der ersten Versammlung der so genannten Kontaktgruppe in Doha (Katar) der Dissens festgestellt werden, der die Europäer auseinandertreibt: einerseits Frankreich und Großbritannien, andererseits Deutschland. Diesmal war man sich uneinig darüber, ob es zweckmäßig sei, die Aufständischen mit Geld und Waffen zu versorgen. Beim Sicherheitsrat der UNO ging es um die Resolution, die es ermöglichen sollte, den Vormarsch Gaddafis auf Bengasi militärisch zu bremsen.

Am Ende des Kalten Kriegs gab es einen kompetenten Steuermann. Die Vereinigten Staaten waren am Ruder. Während der Kriege, die das ehemalige Jugoslawien zerfleischten, blieb die Lenkung in den Händen Washingtons: Clinton spielte bei der Stabilisierung des Balkans und bei der Niederlage Serbiens eine entscheidende Rolle; alleine hätten die Europäer nichts bewerkstelligen können. Die aktuelle arabische Krise enthüllt die furchtbare Realität der kurs- und orientierungslosen Welt, in der wir heute leben, und das setzt sich dadurch um, dass Washington zurücktritt und die Leitung des Militäreinsatzes zur Bremsung Gaddafis der NATO überlässt. Zum ersten Mal ist das Atlantikbündnis ohne die Autorität der Supermacht, die doch dem Aufbau der Organisation zugrunde lag, in eine Militäraktion eingebunden. Und machen wir uns nichts vor, eine NATO ohne die Autorität Washingtons ist keine NATO mehr, sondern etwas anderes. Kein Wunder, dass sie im Kreuzfeuer widersprüchlicher Kritiken steht: in Frankreich und in Großbritannien aufgrund ihres Mangels an Entschlossenheit, in Deutschland oder in der Türkei aufgrund der Zivilisten, die den Bomben zum Opfer gefallen sind.

Doktrin der Nichtdoktrin

Eine NATO mit so geteilten Meinungen, so unterschiedlichen Einstellungen, erinnert doch sehr an die Europäische Union. Wenn wir jetzt also eine NATO haben, die sich so verhält wie die EU, dann nein danke, denn wir haben ja schon die EU. Und wenn die EU dazu bereit gewesen wäre, das Kommando zu übernehmen, dann wäre diese ganze Diskussion überhaupt überflüssig. Es war die ideale Gelegenheit, ins Rampenlicht zu treten. Dieser übergreifende Wandel an den Küsten des Mittelmeers, wo von der Hilfe für die Menschen bis zum Militäreinsatz alles bitter nötig ist, war die Gelegenheit schlechthin, endlich eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik in Europa entstehen zu lassen. Doch diese Chance wurde nicht ergriffen, und von der gewaltigen Krise werden nur zwei zusätzliche politische Leichen übrig bleiben: die NATO, die nie wieder das sein wird, was sie einmal war, und die EU, die niemals das einzige werden wird, was dem, was sie heute noch ist, einen Sinn gibt.

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Washington hat zwar gehandelt und sich vorerst engagiert, aber nur auf Drängen Frankreichs und Großbritanniens. Ohne Obamas Entscheidung hätte Gaddafi ungeniert weitergemacht und die Rebellion wäre vorbei. Doch dann konnte der amerikanische Präsident dem Druck aus dem eigenen Land nicht mehr standhalten, wo man ihm davon abriet, sich in einem dritten Konflikt einzusetzen, der schnell als „freiwilliger“ und nicht als „notwendiger“ Krieg bezeichnet wurde, weil es dabei um grundsätzliche Werte und nicht um Interessen ging. Das ist ein kolossaler strategischer Fehler. Richard Cohen, Redakteur bei der Washington Post, bezeichnet diese neue Orientierung als Doktrin der Nichtdoktrin: Obama hat keine internationale Strategie, und eben das ist seine Strategie. Ian Bremmer von de Denkfabrik Euroasia Group meint hingegen, die Welt werde heute vom G-Null regiert, der an die Stelle aller diversen Instanzen der wirtschaftlichen Leitung der Welt tritt, ob G-8, G-20 oder G-2 (USA und China): In anderen Worten, niemand ist am Steuer.

All das ist notwendig, um diese neue Welt zu verstehen, die vor unseren erstaunten Augen hervortritt. Doch es bleibt immer noch ein konkreteres und dringenderes Problem, das die Geopolitik nicht lösen kann, weil es die Politik betrifft: Wie wird dieser Krieg, der Libyen ausblutet und den ganzen Mittelmeerraum destabilisiert, ein für allemal beendet? (pl-m)

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