Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán bei einer Rede in Budapest, September 2010.

Diktatur der Mehrheit in Stein gemeißelt

Die neue ungarische Verfassung, die am 18. April vom Parlament verabschiedet wurde, ist die Krönung der von Ministerpräsident Viktor Orbán unternommenen "nationalen Revolution“. Doch die Tageszeitung Népszabadság sieht diese Neuauflage von Ideen aus dem 19. Jahrhundert als Gefahr für das Land.

Veröffentlicht am 19 April 2011 um 16:24
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán bei einer Rede in Budapest, September 2010.

Diese Verfassung ist das Produkt einer legal regierenden Macht, nämlich der Diktatur einer parlamentarischen Mehrheit. [Die Fidesz, die Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán, stellt 2/3 der Abgeordneten im Parlament.] Dabei ist sie so anachronistisch, dass wir einen Denker aus dem 19. Jahrhundert bemühen müssen, Tocqueville, um eines zu begreifen: Die Diktatur der Mehrheit ist eine wandelnde Gefahr für die Gemeinschaft.

Diese Mehrheit verwechselt "Volk“ und "Nation“ und opfert beide auf dem Altar des Machtkampfs. Wenn sie es für richtig hält, stellt sie das Volk (also die Nation, im Sinn des 19. Jahrhunderts) über den Staat, beruft sich darauf und errichtet einen starken Staat, der für das Volk, die Nation ("die Leute“) nur gut sein kann. Sie sieht den Staat (das Interesse aller) als eine Konstruktion, die man der Gemeinschaft der Bürger von oben aufzwingen kann. Sie kehrt sich von der europäischen Tradition ab und schafft die Bedingungen für eine autoritäre Politik.

In Europa ist die Verfassung traditionsgemäß der von der Gemeinschaft der Bürger bestimmte Rahmen, in welchem die Grundsätze des gemeinsamen Lebens festgehalten sind. Da wir nicht in einem Zeitalter der Revolution leben, kann dieser Rahmen nicht von einer parlamentarischen Mehrheit festgelegt werden, denn es liegt im Wesen der Demokratie, dass sich die parlamentarische Mehrheit ändert, während die Verfassung in ihrem Wesen beständig ist und, unabhängig von politischen Fluktuationen, den Interessen der gesamten Gemeinschaft dienen muss. Umsichtige Länder beauftragen mit dieser juristischen Aufgabe die Abgeordneten der verschiedenen Richtungen und unterbreiten sie nicht einer Volksbefragung fragwürdigen Wertes.

Die neue Verfassung ist nicht die Verfassung der Bürger. Denn letztere wäre, seit Hobbes und Locke, ein Konsens einer auf der Willensfreiheit der Bürger beruhenden Gemeinschaft, und die Grundlage ihres gemeinsamen Lebens. Es wurde Hobbes und Locke vorgeworfen, eine nach diesen Grundsätzen organisierte Gemeinschaft sei nicht tragbar, da der Gesellschaftsvertrag auch dem jeweiligen kulturellen Erbe der Gemeinschaft Rechnung tragen muss.

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Einfarbiger Nationlismus und vielfarbiger Patriotismus

Die Autoren der neuen Verfassung waren sich dessen bewusst, und ihre Verantwortung ist um so größer, da sie den kulturellen Raum festgelegt haben, in welchem die ungarischen Bürger leben sollen (sollten). Dieser Raum resultiert aus dem Sieg der derzeitigen Mehrheit, die in einem kulturellen Kampf dominiert – als ob es in diesem Kulturkampf überhaupt einen Sieger geben könne. Es wird versucht, Grundsätze wieder aufleben zu lassen, die zwar im 19. Jahrhundert eine revolutionäre Rolle spielten, heutzutage aber nur populistische Parolen sind. Die Symbole von früher sind heute nur noch Allegorien. Man will uns statt eines vielfarbigen Patriotismus einen einfarbigen Nationalismus aufzwingen, der auf die Krone des heiligen Stefan [des Gründers des Königreichs Ungarn im späten 10. Jahrhundert] Bezug nimmt. Dabei gehört Ungarn doch zur Europäischen Gemeinschaft, in der die Kulturstaaten an die Stelle der Nationalstaaten treten.

Erinnern wir hier an den heiligen Augustinus und einen der Grundgedanken in seinem Werk De civitate Dei [dt.: Vom Gottesstaat]: Die Verfassung und das geschriebene Gesetz seien erst dann moralisch verpflichtend, wenn sie Ausdruck einer in das Bewusstsein der Bürger eingeprägten Verfassung seien. Ohne eine derartige moralische Unterstützung könne die Stärke des Staates eine große Bedrohung darstellen.

Die überwältigende Mehrheit der Ungarn steht der neuen Verfassung noch gleichgültig gegenüber. Doch diese Mehrheit wird zu protestieren beginnen, wenn, gemäß dem patriotischen Kredo [das als Präambel Teil der neuen Verfassung ist], Gesetze entstehen, nach welchen die Bürger dann leben müssen. Das wird ein unbequemes Leben sein, es wird ihnen nicht gefallen. Und wenn die Gemeinschaft dann nach einem legalen Rahmen für den Ausdruck ihres Missfallens sucht, und nicht findet, dann wird sie der alten Verfassung der Dritten Republik bitter nachtrauern.

Das ist dann die Höllenfahrt der Nation.

Kontrapunkt

Rückeroberung der Geschichte

Die Verabschiedung der neuen Verfassung ist ein "historischer Moment“, heißt es in der Magyar Nemzet. Die rechtsliberale Tageszeitung erinnert daran, dass "die Weisen, die 1989 die vorige Verfassung ausarbeiteten“, sie als einen "Übergang“ konzipiert hatten. Der Text von 1949 war nach dem Sturz des kommunistischen Regimes abgeändert worden. Magyar Nemzet erinnert auch daran, dass "über eine Million Bürger“ an der von der Regierung zur Ausarbeitung der Verfassung veranstalteten Volksbefragung teilgenommen haben und findet, "wer diese Verfassung ersetzen will, muss eine ähnliche Legitimität vorweisen können“.

Die Tageszeitung verteidigt das stark umstrittene patriotische Kredo, das in der Präambel der Verfassung steht. "Keine politische Gemeinschaft kann ohne Werte und eine Geschichte leben, die als gemeinsam akzeptiert werden.“ Bei diesem Text gehe es darum, "mit dem Erbe der Diktaturen zu brechen“, wie Magyar Nemzet versichert, und "uns unsere so oft geleugnete und verfälschte Geschichte wieder zu eigen zu machen. Heißt das, wir blicken in die Vergangenheit? Überhaupt nicht. Die Geschichte ist noch nicht vorbei.“

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