"Der Denker" von Auguste Rodin. Photo von Javier Vazquez.

Bauanleitung für den Kontinent

Die Krise will überwunden werden. Dafür muss Europa voranschreiten und ein neues, bedeutendes Vorhaben verfolgen, eines, das ebenso ehrgeizig ist wie es die Einheitswährung war. Das predigt zumindest der Bericht "Europe Can Do Better" aus der Feder des Warschauer Magazins Polityka und dem Zentrum für Europäische Strategie demosEuropa. Eine Einladung, eine Entscheidung über seine Zukunft zu treffen.

Veröffentlicht am 24 Juli 2009 um 15:37
"Der Denker" von Auguste Rodin. Photo von Javier Vazquez.

Es ist ein ganz besonderer Moment: Europa hat seine Eigendynamik verloren und weiß nicht wirklich, was es eigentlich tun soll. Der alte Kontinent wurde von einer dreifachen Krise erfasst, die sich wirtschaftlich, institutionell, aber auch durch mangelnden Glauben und fehlende Zukunftsvisionen bemerkbar macht. Jedoch hat für die EU gerade erst eine neue institutionelle Saison begonnen: Zum neuen Parlament wird sich schon bald eine neue Kommission gesellen. Europas Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit muss überwunden werden.

Das Wochenmagazin Polityka und die in Warschau ansässige Expertenkommission demosEuropa-Centre for European Strategy [Zentrum für Europäische Strategie] haben eine Reflexionsgruppe ins Leben gerufen, deren Ziel es ist, eine neue Agenda für die Europäische Union auszuarbeiten. Ihr umfassender Bericht mit dem Namen "Europe Can Do Better" wurde am 16. Juli in Warschau enthüllt und wird auch in anderen europäischen Hauptstädten vorgestellt werden. Die Hauptaussage ist eindeutig: Die EU muss nach vorn blicken und ein neues integratives Projekt in Gang bringen, welches an das EU-Binnenmarktprojekt der 1980er Jahre oder das Projekt der Einheitswährung der 1990er Jahre anknüpft.

Die EU ist mehr als nur eine erfolgreiche internationale Organisation. Sie ist ein politisches und zivilisatorisches Projekt. Ihre Wichtigkeit und ihre Bedeutung liegen vor allem in ihrer Anziehungskraft und ihren Reiz, also in dem, was Europa sich selbst und anderen zu bieten hat. Gegenwärtig hat man den Eindruck, dass die europäische Debatte zum Stillstand gekommen ist, dass sie sich in einer Art Schwebezustand befindet, zwischen dem Traum der Vereinigten Staaten von Europa, der bis vor Kurzem noch jedermann fesselte, und einem irreführenden Pragmatismus, der momentan das politische Leben des Kontinents zu dominieren scheint. Dieser kleinliche Pragmatismus wirkt wie ein Virus, der die Union schwächt und im Laufe der fortschreitenden Einigung die verschiedensten Formen annimmt. Dabei zieht er die grundsätzlichsten Dinge, zu der auch das Funktionieren des europäischen Binnenmarktes gehört, in Mitleidenschaft. Paradoxerweise könnte diese Art von EU-"selbstverschuldeter Desintegration" aller Wahrscheinlichkeit nach viel gefährlicher sein, als wenn ihre Legitimität unmittelbar herausgefordert werden würde.

In der kürzlich gefällten Entscheidung bezüglich des Vertrages von Lissabon haben sich die Richter des deutschen Bundesverfassungsgerichts über 147 Seiten hinweg mit dem Problem der europäischen Integration auseinandergesetzt und argumentiert, dass diese die Machtbefugnisse der einzelnen Nationalstaaten zu sehr einschränkt. Nationalstaaten oder Vereinigte Staaten von Europa? Wir können nicht beides haben und müssen uns also entscheiden.

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Seit einiger Zeit ist der Begriff 'G2', der die Vereinigten Staaten von Amerika und China bezeichnet, nun schon im Umlauf. Kein einziges europäisches Land kann von sich behaupten, alleiniger Partner einer der beiden Länder zu sein. Sollte es der EU also nicht gelingen, die G2 in eine G3 zu verwandeln? Wenn die Europäische Union die Schlacht um weltweiten Einfluss verlieren sollte, so wird ihre Existenz als politische Einheit ebenso erlöschen. Damit die G3 Wirklichkeit werden kann, muss die EU eine gemeinsame Strategie-Kultur entwickeln und lernen, ihren Vertretern zu vertrauen. Die Entwicklung einer europäischen Diplomatie, welcher der Vertrag von Lissabon grünes Licht erteilen würde, könnte anschließend entweder Jahre dauern und von den hauptsächlichen Finanzmitteln Europas an der Leine gehalten werden, oder schnell aufgebaut und angemessen ausgestattet werden. Es besteht kein Zweifel daran, dass die letztere Lösung die Bessere ist.

Europa braucht Politisierung. Erreicht werden kann diese, indem man wirkliche europäische politische Parteien bildet. Sie sind es, die, vielmehr noch als die einzelnen Landesparteien, die Diskussion vor den Wahlen zum Europäischen Parlament führen können. Auf diese Art und Weise könnten wir beispielsweise provinzielle Wahlkämpfe verhindern, die vor allem von heimischen Angelegenheiten und individuellen Ambitionen bestimmt werden. Europäer würden auf dem ganzen Kontinent die wirklich wichtigen Themen diskutieren. Jedermann weiß, dass Probleme wie Umweltschutz, Verkehrswesen oder Energie nicht einzig und allein von einem einzelnen Mitgliedstaat gelöst werden können. Aufgrund dessen dürfen diese Diskussionen auch nicht nur auf diesem Level, sondern auf europäischer Ebene geführt werden.

Zwischen der EU und der NATO muss es eine enge Zusammenarbeit geben. Eine neue Phase sollte dadurch eingeleitet werden, dass man die Schlüsselherausforderungen überprüft und bespricht, sowie einen gemeinsamen Nenner bezüglich der Europäischen Sicherheitsstrategie und des neuen strategischen Konzeptes der NATO findet. Die EU muss über ein eigenständiges Notfall-Programm verfügen können, um nicht mehr auf das Wohlwollen ihrer Mitgliedsstaaten angewiesen zu sein.

Erfreulicherweise hat die gegenwärtige Krise jedenfalls gezeigt, dass man sich auf die strukturellen Grundlagen der EU, und insbesondere die Europäische Zentralbank, verlassen kann. Wenn diese sich nicht so sehr für den Euro einsetzen würde, so würden miteinander wetteifernde Geldentwertungen Europa aller Wahrscheinlichkeit nach unterhöhlen, da jeder einzelne Mitgliedsstaat bestrebt sein würde, wechselkursbedingte Gewinne für sich allein zu erzielen. Wenn der Euro neben dem US-Dollar zu einer weltweiten Reservewährung werden soll, muss er gestärkt werden. Die Erweiterung der Euro-Zone wird eines der wichtigsten politischen Projekte des kommenden Jahrzehnts. Demzufolge ist es unbedingt notwendig, dass wir die Teilung in alte und neue Mitgliedsstaaten überwinden.

Die europäische Idee beruhte schon immer auf der wirtschaftlichen Integration. In Krisenzeiten wird uns das nur umso bewusster. Bis jetzt hat jeder sein eigenes Ding gemacht: Deutschland hat die Forderung das Budgetdefizit zu senken in seiner Verfassung verankert, während Frankreich vielmehr 'in die Zukunft' investieren möchte, indem es seine Inlandsverschuldung nur noch mehr in die Höhe treibt. Die Methode des Tauziehens, bei welcher der Stärkere gewinnt, bleibt also an der Tagesordnung. Aus polnischer Sicht ist es zwingend erforderlich, die grundsätzlichen Prinzipien der EU, wie beispielsweise den freien Verkehr von Gütern, Personen, Dienstleistungen und Kapital zu verteidigen, unabhängig davon, ob die wirtschaftliche Situation gerade gut oder schlecht ist. Zudem sollte man eine Erhöhung des EU-Budgets fördern, welches gegenwärtig nur ein läppisches Prozent des Europäischen Bruttoinlandsproduktes beträgt. Diese Finanzmittel wird man brauchen, um die europäische Forschung und Entwicklungsprojekte zu unterstützen, denn gerade für die europäische Wirtschaft ist Innovation im 21. Jahrhundert eine Frage von 'sein oder nicht sein'.

Die eine Krise schreitet voran, und weitere Krisen stehen schon in der Warteschlange. Demographie wird die Ursache der Ersten sein. Sie ist gleichzeitig Europas Erfolg, aber auch sein Problem. Die Hälfte der Europäer wird in den nächsten zwei bis drei Jahren älter als 50 Jahre sein. Auf der ganzen Welt hat keine andere Gesellschaft oder Wirtschaft ein ähnliches Profil. Ein europäisches Abkommen, eine Erhöhung des Rentenalters und ein allmählicher und schrittweiser Übergang zu einem beitragsorientierten Rentenmodell (wie es in Polen existiert) sind absolut notwendig.

Die Anzahl der Probleme, mit denen die EU in den kommenden Jahren fertigwerden muss, ist besorgniserregend. Auf ironische Weise erklärt das aber auch, warum in der gegenwärtigen Lage ein so großer Mangel an politischer Führungsstärke herrscht. Es ist hundertmal einfacher, in innerstaatlichen politischen Debatten Zuflucht zu suchen, den Rest der Welt zu vergessen und stillschweigend zu hoffen, dass jemand anderes die Probleme löst. Jedoch nähert sich diese Idylle unweigerlich ihrem Ende. Mit Jerzy Buzek als Chef des Europäischen Parlamentes und der polnischen Ratspräsidentschaft, die sich für 2011 schon jetzt am Horizont abzeichnet, haben wir keine andere Wahl, als uns eine dick gepanzerte Rüstung anzulegen. Noblesse oblige!

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