Nachrichten Strauss-Kahn-Affäre
Dominique Strauss-Kahn bei einer Pressekonferenz des IWF in Paris, 2007.

Der alles außer sich selbst managte

Mit der Verhaftung des IWF-Chefs verliert Europa einen wichtigen internationalen Verbündeten: Dominique Strauss-Kahn war es gelungen, die IWF-Interventionen für die Krisenstaaten sozialer zu gestalten und Europa in einer oft als Speerspitze des Neoliberalismus gesehenen Institution mehr Gewicht zu verleihen.

Veröffentlicht am 16 Mai 2011 um 13:45
Dominique Strauss-Kahn bei einer Pressekonferenz des IWF in Paris, 2007.

Ein riesiges Loch tut sich an der Spitze des Internationalen Währungsfonds auf … und das genau in einem entscheidenden Moment für die Rettung Griechenlands und die Stabilität der Eurozone: Ein Skandal erschüttert den Schlüsselakteur der „Soforthilfemaßnahmen“ zur Bewältigung der Krisen souveräner Staaten, die die Weltwirtschaft gefährden. Die Rolle des IWF gewann dank Dominique Strauss-Kahn, auch DSK genannt, sehr an Bedeutung.

Nun hat der IWF eine noch nie dagewesene interne Krise zu bewältigen, die letztlich die Bestellung eines Chinesen oder eines Brasilianers zur Folge haben könnte. Mit der Dominanz der neuen Schwellenmächte hat nicht mehr Europa allein das Recht, den IWF-Chef zu ernennen … Es wäre dies ein sehr hoher Preis, den die gesamte EU für den ruhmlosen Fall eines ihrer bedeutendsten Repräsentanten zu bezahlen hätte.

Der Mann war vom Himmel geschickt

Die Sache schlägt gewaltige Wellen: Absage des für den 15. Mai geplanten Gipfels zwischen Strauss-Kahn und Angela Merkel, bei dem problematische Differenzen über die Griechenland-Krise ausgeräumt werden sollten; Bestätigung des Amerikaners John Lipsky, Nummer Zwei des IWF, als Interimsleiter. Am 16. Mai erscheint die IWF-Delegation ohne ihren Chef beim Meeting der Eurogruppe, bei dem Hilfsmaßnahmen für Griechenland beschlossen und Mario Draghis EZB-Kandidatur erstmals bestätigt werden sollen. In Deutschland musste Finanzminister Wolfgang Schäuble intervenieren, um die Märkte vor ihrer erneuten Öffnung zu stabilisieren: Laut Schäuble ist die Lösung der Probleme Griechenlands durch Strauss-Kahns Verhaftung nicht belastet … Doch es ist noch zu früh, um das mit Sicherheit sagen zu können. Die extrem heftigen Reaktionen in Frankreich machen die Schwere des Verlustes für die Weltwirtschaft deutlich.

Die Suche nach versteckten „Regisseuren“ zeigt schlicht, zu was für einer wichtigen Persönlichkeit Strauss-Kahn geworden war – beruflich, versteht sich. 2007 wird er Chef eines IWF, der sich allem Anschein nach überlebt hat. Im ersten Halbjahr, als die verheerende Subprime-Blase die Märkte noch nicht erfasst hatte, zahlt die Türkei den „letzten Kredit“ an den IWF zurück, der damit praktisch arbeitslos ist. Alles läuft zu gut, kein Land braucht Beihilfen. Dann innerhalb weniger Monate die Katastrophe, die schlimmste Wirtschaftskrise weltweit seit der Great Depression 1929. Strauss-Kahn scheint vom Himmel geschickt. Er leitet den FMI mit viel Elan, entdeckt quasi dessen interventionistische Berufung neu und dämpft eilig eine Krise nach der anderen: Pakistan, Ukraine, Island.

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Wäre nicht der bedauernswerte Vorfall im Sofitel

Er ist unverzichtbar für das Löschen von Krisenherden in den Randgebieten der EU, was ihm die Eifersucht Brüssels und einiger Mitgliedsstaaten einbringt. Irland, Portugal und Griechenland werden zu regelmäßigen Reisezielen Strauss-Kahns. Durch ihn kommt es zur Abkehr vom reinen Neoliberalismus: Er fordert Kontrollen über die Kapitalflüsse und neue Regeln für das Bankensystem, prangert die sozialen Unterschiede an, ernennt einen Chinesen zu seinem Stellvertreter. Der Nutzen der großen Krise: Sogar Amerika ist dankbar, dass ein französischer Sozialist IWF-Chef ist, der zudem ein Gefühl für die notwendigen Reformen gegen die Auswüchse des freien Marktes hat. Die Europäer lieben ihn folglich umso mehr: Eineinhalb Jahre sind seine langjährigen persönlichen Kontakte zu Sarkozy, Trichet und Papandreou sowie die Glaubwürdigkeit, die er gegenüber Merkel und Obama gewinnt, extrem wichtig, um Differenzen bezüglich der Rettungsmaßnahmen gegen den Zerfall der Eurozone beizulegen.

Ohne den bedauernswerten Vorfall im Sofitel Manhattan wäre Strauss-Kahn heute in Brüssel erwartet worden, als Vermittler zwischen Deutschland, EZB und Europäischer Kommission bei der Vorbereitung eines 60-Milliarden-Nachschlags für Griechenland zur Verhinderung einer erneuten Umstrukturierung der griechischen Staatsschuld (ein vorsichtiger Euphemismus für einen mit den Gläubigern abgestimmten Bankrott). Die Märkte sind erneut in Alarmbereitschaft: Nach Griechenland fürchtet man Portugal, dann Irland, und so weiter und so fort.

Dieses Szenarium ist bereits bekannt, eineinhalb Jahre lang konnte das Schlimmste vermieden werden. Man hat Zeit gewonnen, wenngleich Strauss-Kahn die größte Gefahr erkannt hatte: Die den Regierungen der PIGS-Staaten abverlangten „Schocktherapien“ führen sie in die Rezession; Griechenland hat bereits 4 Prozentpunkte seines Bruttoinlandsproduktes verloren. Staatsschulden können nicht auf den Trümmern sozialer Katastrophen reduziert werden. Strauss-Kahn setzte sich für eine sozial nachhaltige Lösung ein. Aufgrund der Hingabe, mit der er jedes Detail der Krisenproblematik studierte, bezeichneten ihn die Amerikaner bewundernd als einen echten „Micromanager“. Tatsächlich managte er alles vorbildlich – alles bis auf sich selbst.

Aus dem Italienischen von Salka Klos

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