Unsichere Aussichten. Französischer Soldat in Afghanistan (AFP)

Neuer Chef für klapprige Allianz

Am 1. August wurde der ehemalige dänische Regierungschef Anders Fogh Rasmussen zum neuen Generalsekretär der NATO ernannt. Er kündigt an, dass Afghanistan oberste Priorität für ihn hat. Die europäische Presse fragt sich, was das für die Zukunft der atlantischen Allianz bedeutet, die seit dem Krieg im Irak nicht nur geteilter Meinung ist, sondern auch mit den zunehmenden Schwierigkeiten ihres Krieges gegen die Taliban fertig werden muss.

Veröffentlicht am 3 August 2009 um 16:33
Unsichere Aussichten. Französischer Soldat in Afghanistan (AFP)

"Höchste Priorität" soll der Krieg in Afghanistan für den neuen Generalsekretär der NATO, Anders Fogh Rasmussen, haben. Am Abend seiner Ernennung zum Chef des westlichen Bündnisses vertraut der ehemalige dänische Regierungschef dem Kopenhagener Tagesblatt Politiken an, dass die Sicherheitszustände in einigen Teilen Afghanistans nicht "vollkommen zufriedenstellend" sind. Jedoch habe er vor, "die rebellischen Gruppen zu trennen, in dem er mit ausgewählten Gruppierungen, die mit den Taliban verbündet sind, über Friedensabkommen verhandeln" will.

Man hat den Eindruck, als höre man die Worte des britischen Außenministers David Miliband noch einmal. Auch die britische Presse lässt keinen Zweifel daran und reagierte dieses Wochenende bestürzt auf den Bericht des Komitees für auswärtige Angelegenheiten des Britischen Unterhauses. Nachdem in nur einem Monat 22 Briten in Afghanistan starben, weist die im Observer analysierte Studie unter dem Titel Globale Sicherheit: Afghanistan und Pakistan darauf hin, dass die britische Armee "eine ungenau definierte Mission verfolgt, die zudem unter unrealistischer Planung und Personalmangel leidet". Diese Anmerkungen brachten den Brigadegeneral Allan Mallinson in The Daily Telegraphso weit, sich shakespearerisch darüber aufzuregen, dass "Frieden" England geradezu "überwuchert". Es habe es demnach umso mehr nötig, sich selbst davon zu überzeugen, dass es "sich im Krieg befindet, auch wenn es diesen nicht so finanzieren kann, wie es eigentlich sein müsste".

Aber unter welchen Bedingungen wird dieser Krieg ausgetragen? Die belgische Tageszeitung De Standaard bejubeltRasmussens Ernennung und stellt erfreut fest, dass ihm die "gegenwärtige, um ein Vielfaches bessere Atmosphäre, als diejenige, mit der sein Vorgänger zu seinem Amtsantritt fertig werden musste", nur zugute kommen kann. "So viel heller ist der transatlantische Himmel also seit der Wahl Barack Obamas geworden". Das belgische Blatt weist auch auf den Beruhigungseffekt der Gipfelerklärung von Straßburg/Kehl im vergangenen April hin, in der die NATO-Mitglieder sich dazu verpflichteten, in Zeiten "unkonventioneller Kriegsführung" ein gemeinsames Ziel zu verfolgen.

Im Gegensatz zu De Standaard ist Ilana Bet Els von The Guardian vielmehr der Meinung, die Allianz steuere gegenwärtig einen eher ruhigen Kurs an. Sie scheint den Optimismus ihrer belgischen Kollegen nicht zu teilen. Sie heißt Rasmussen "misstrauisch Willkommen" und blickt auf die jüngste Vergangenheit der Allianz zurück: Die Mehrzahl der Europäischen Staaten war eigentlich der Meinung, dass die "NATO ein mehr oder weniger im Sterben liegendes Unternehmen sei, welches der Kontrolle der Vereinigten Staaten von Amerika und der Unterstützung des Vereinigten Königreiches unterliegt. So machten sie auch eigentlich keinen großen Wirbel darum, wer an seiner Spitze steht". Sie bemerkt weiterhin, dass Rasmussen sich in einer Situation befindet, in der man ihm eine angeschlagene NATO vererbt, denn schließlich hatten "die Vereinigten Staaten von Amerika die Hilfe der NATO und ihrer Mitglieder nach den Anschlägen vom 11. September 2001 abgelehnt". Über die 2003 stattfindende Invasion der USA im Irak waren die Mitgliedsstaaten der NATO sehr geteilter Meinung. Als es jedoch schließlich darum ging, die Operationen in Afghanistan zu übernehmen, scheiterten sie an dem Versuch, an einem gemeinsamen Strang zu ziehen. Während "man sich jedoch auf beiden Seiten des Atlantiks ganz eindeutig darum bemüht, die Vergangenheit ruhen zu lassen, bleibt dennoch ein grundsätzliches Misstrauen zwischen den Alliierten bestehen, die sich auf der einstigen Grundlage der nun archaisch gewordenen industriellen Kriegsführung und Kontrollstrukturen verbündet hatten, die den heutigen Ansprüchen moderner Kriegsführung keineswegs mehr gerecht sind".

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Anderenorts werden Zweifel an Rasmussens Berechtigung laut. Sogar De Standaard spielt auf den dänischen Euroskeptizismus an, sowie seine häufigen Versuche, Ausweichklauseln für bestimmte europäische Verträge zu finden. Man fragt sich, ob das alles für die europäischen Interessen Gutes bedeuten wird. In Deutschland versucht die Frankfurter Rundschau, einen Ausblick über die Auswirkungen zu geben, die seine Ernennung in der muslimischen Welt hervorrufen könnten. Sie erinnert ihre Leser daran, dass Rasmussen es war, der es ablehnte, als sich die Kontroversen zu den in einer dänischen Zeitung erschienenen Karikaturen des Propheten Mohammed zuspitzten, ein Treffen mit Botschaftern elf muslimischer Länder zu organisieren, indem er sich auf eine uneingeschränkte Pressefreiheit berief. Für die Frankfurter Rundschau führte dies unter anderem zu den Verwüstungen der dänischen Botschaften in Teheran und Damaskus.

Die Rundschau schlussfolgert, dass Rasmussen ein "flexibler, pragmatischer und machtliebender Mann" ist, lässt es sich aber nicht nehmen, ironisch darauf hinzuweisen, dass die Taliban ihm einen der wärmsten Empfänge überhaupt reserviert haben. Eine Internetseite der islamistischen Bewegung berichtet, dass "ein großer Feind des Propheten" nun an der Spitze der Allianz steht. "Unvermeidlich wird dies auch dazu führen, dass sich der Glaube der Muslime im Kampf gegen die NATO nur noch verstärkt". So wird sich wohl auch der Krieg verschärfen.

Eines ist jedoch klar: Die Lage in Afghanistan verschlechtert sich immer mehr. Während Brigadegeneral Mallinson sich fragt, ob "der Westen nicht genug Mut hat, zu kämpfen", zeigen die Ergebnisse der Ermittlungen des britischen Unterhauses, wie sie The Observer wiedergibt, dass die Unterstützung britischer Truppen vor Ort vor allem darunter leidet, dass es so viele zivile Opfer gibt. Auch treibt eine "schwache und korrupte Polizei die Afghanen, die auf der Suche nach Gerechtigkeit sind, regelrecht zurück in die Hände der Taliban". Zu berücksichtigen sei jedoch auch, dass "die strategische Bedrohung sich nun nach Pakistan verschoben hat". Die Al-Qaida visiert nämlich den Zugang zu dem Atomwaffenarsenal in Islamabad an. Diese und andere Probleme bringen Ilana Bet –El dazu, sich zu fragen, ob Rasmussen nicht "als letzter Generalsekretär der NATO" in die Geschichte eingehen wird.

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