Warum Griechenland den Euro mitreißt

Standard & Poor's gibt dem griechischen Staat das niedrigste Rating der Welt. Der Wirtschaftsredakteur der Irish Times ist der Meinung, das seit Jahrhunderten zerrüttete politische und wirtschaftliche Leben des Landes lasse darauf schließen, dass auch die 16 anderen Länder der Eurozone gefährdet sind.

Veröffentlicht am 14 Juni 2011 um 13:18

Griechenland steht an der Grenze zum „Failed State“, zum gescheiterten Staat. Die griechische Gesellschaft ist tief gespalten, es fehlt ihr an Zusammenhalt. Die Wirtschaft steht unter Schock. Falls die Geschichte des Landes irgendwie auf die Zukunft schließen lässt, stehen uns ernsthafte Schwierigkeiten bevor.

Vor über einem Jahr, als die Troika der Institutionen, die heute Irlands Rettungsprogramm leitet, erstmals in Athen landete, bestand noch Hoffnung, dass der am schlechtesten regierte Staat Europas auf den rechten Weg geführt werden könne.

Damals war eine neue Regierung an die Macht gekommen und ihre führenden Persönlichkeiten schienen mit ihrer radikalen Reformbereitschaft ernst machen zu wollen. Viele – insbesondere junge und gebildete – Griechen, die erkennen, wie dysfunktional ihr Land ist, unterstützten den Umbruch. Es war viel von „Krise als Chance“ die Rede. Davon hört man heute nichts mehr. Die Krise bietet heute nichts anderes als Drohungen und Gefahren.

Athen seit 1820 jedes zweite Jahr zahlungsunfähig

Das ist in vieler Hinsicht nicht weiter überraschend. Die chronische Dysfunktion des griechischen Staats ist seit langem erwiesen. Seit seiner Unabhängigkeit vor knapp 200 Jahren war Griechenland der Schauplatz von Bürgerkrieg, Aufständen, Massenumsiedlungen, Diktaturen und Terrorismus.

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Es gibt keine deutlichere Illustration der Fehlschläge eines Staats als das Thema, das in den letzten anderthalb Jahren die Augen der ganzen Welt auf das Land gezogen hat: das budgetäre Chaos. Einer Studie der Wirtschaftshistoriker Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff zufolge war der griechische Staat seit seiner Gründung kurz nach 1820 fast jedes zweite Jahr zahlungsunfähig. Heute strauchelt er unter der Last der zweithöchsten Staatsverschuldung der Welt und es sieht ganz so aus, als schlage er diesen Weg erneut ein.

Die Unfähigkeit des griechischen Staats, solvent zu bleiben, lässt sich zum Teil durch seine Geschichte erklären. Griechenland war Jahrhunderte lang eine vom Osmanischen Reich bezwungene Provinz und war somit von den Entwicklungssprüngen der westeuropäischen Politik und Gesellschaft abgeschnitten. Eine Folge davon ist seine äußerst schwache Bürgergesellschaft und seine begrenzte Tradition unabhängiger Institutionen. Diejenigen, die in Griechenland politische Macht ausüben, tun dies mit einem Absolutismus, der für das demokratische Europa ungewöhnlich ist.

Wo die Politik Statistiker die Zahlen frisieren lässt

Der griechische Auslöser der Staatsschuldenkrise in Europa ist das einschlägigste Beispiel dafür. In Ländern, in welchen die Grenzen der Machtausübung beachtet werden, sitzen die Statistiker eigenverantwortlich über ihren Zahlen. In Griechenland zwang die Regierung in den letzten zehn Jahren die nationalen Statistikämter dazu, stark frisierte Zahlen zu veröffentlichen, und setzte Strohmänner ein, die sich dessen vergewisserten.

Nach einem Regierungswechsel wurde das volle Ausmaß des Schwindels Ende 2009 aufgedeckt. In den ersten Monaten des Jahres 2010 ging dem Anleihenmarkt langsam auf, dass der griechische Staat pleite war. Seither lebt die Welt mit den Konsequenzen der Staatsschuldenkrise der Eurozone.

Der Umfang der Schattenwirtschaft in Griechenland spiegelt nicht nur die Schwäche des Staats bei der unparteiischen Vollstreckung des Gesetzes wider, sondern auch das Fehlen einer sozialen Solidarität. Der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Schneider stellte in einer Untersuchung fest, dass die Schattenwirtschaft in Griechenland 2010 ein Viertel der offiziellen Wirtschaft ausmachte. Unter den 21 Industrieländern in der Studie war Griechenland der Tabellenführer.

Die militarisierteste Gesellschaft in Europa

Unverhohlene Bestechlichkeit im öffentlichen Leben ist ein anderer Grund für das Scheitern des griechischen Staats. Transparency International zufolge war Griechenland 2009 das korrupteste Land im industriellen Europa und rangiert weltweit erst an 57. Stelle im Corruption Perceptions Index der Organisation (Irland steht auf Platz 16).

Korruption ist eine Angewohnheit, die man nur sehr schwer los wird, hat sie sich einmal eingewurzelt. Unter anderem polarisiert sie die Gesellschaft. Und es ist ja nicht so, als gebe es in der griechischen Gesellschaft nicht schon genug Spannungen und alte Wunden. Noch 1974 war das Land eine Militärdiktatur und hatte unter allen Ungerechtigkeiten zu leiden, die typischerweise mit derartigen Regimes assoziiert werden, darunter willkürliche Verhaftungen, Folter und Hinrichtungen im Schnellverfahren.

Dazu kam zu allem Überfluss Ende der 1940er Jahre noch ein Bürgerkrieg, bei dem 50.000 Menschen ums Leben kamen. Heute noch ist Griechenland die militarisierteste Gesellschaft in Europa, deren Verteidigungshaushalt durchgängig der höchste des ganzen Kontinents ist. Straßenkriminalität ist gang und gäbe und eine Unterwelt der Terrorzellen war zwar in den letzten Jahren weniger aktiv, ist jedoch nicht verschwunden. Falls sich die Wirtschaft noch weiter verschlimmert, besteht die Gefahr, dass manche der Radikalisierten und Verzweifelten die Antwort im gewaltsamen Extremismus suchen.

Ohne Innovation kein Reichtum

Die Chancen, dass es noch schlimmer kommt, sind hoch. Gesellschaftliche Spannungen und grassierende Korruption allein verursachen keine schwache Wirtschaft – das sieht man an China und Indien – doch sie helfen auch nicht. Leider gäbe es auch wenn beide Probleme morgen verschwänden, für Griechenland wenig Grund zu glauben, dass dies das Ende seines wirtschaftlichen Verfalls wäre.

Griechenland exportiert so wenig, dass es die meistgeschlossene Wirtschaft der 27 EU-Mitgliedsländer besitzt. Eine kleine Wirtschaftsmacht von knapp über zehn Millionen Menschen kann ohne Export niemals reich werden.

Keine Wirtschaft kann ohne Innovation reich werden. Der beste Indikator für die Innovationsfähigkeit eines Landes ist der Betrag, den es auf Forschung und Entwicklung anwendet. In Griechenland geben Unternehmen und Staat jährlich 0,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts für die Forschung aus, das ist weniger als ein Drittel des EU-Durchschnitts. Von den 15 langjährigen EU-Mitgliedern hatte es durchgängig die niedrigsten Forschungsausgaben.

Es besteht sehr wenig Grund für einen optimistischen Blick auf Griechenland. Seine Wirtschaft, seine Politik und seine Gesellschaft funktionieren nicht. Das ist nicht nur sehr schlecht für die Griechen, es ist auch schlecht für die Einwohner der 16 anderen Länder der Eurozone. Wenn es implodiert, dann könnte es sehr wohl die Einheitswährung mit in die Tiefe reißen.

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

Aus Athen

Umschuldung oder Selbstmorddrohung

Die Diskussion tobt auf dem Syntagma-Platz, auf dem seit zwei Wochen die „Empörten“ Athens abends zu Tausenden zusammenkommen, um ihrem Unmut über die wirtschaftliche und soziale Lage des Landes Ausdruck zu geben. Einer von ihnen, Iannis Varufakis, Wirtschaftsprofessor an der Universität Athen, hat einen Brief an Ministerpräsident Giorgos Papandreou geschickt, berichtet Pantelis Kapsis, einer der einflussreichsten Redakteure des Landes, in der Zeitung To Vima. Der Professor fordert Papandreou auf, doch selbst zum Platz zu kommen, um „den Demonstranten anzukündigen, dass die Zeit gekommen ist, den Kopf zu heben und den Dingen ins Auge zu sehen: Wir bekommen von Europa keinen Cent mehr, wenn wir nicht die Maßnahmen durchführen, die es von uns verlangt.“

Doch für Kapsis ist eines klar: Selbst wenn es dem Ministerpräsidenten gelänge, seine Mitbürger von der Stichhaltigkeit der geforderten Sparmaßnahmen und massiven Privatisierungen zu überzeugen, „sind wir sowieso zahlungsunfähig – denn wir können unmöglich einen neuen Kredit aufnehmen und unsere Schulden zurückzahlen“. „Professor Varufakis ist nicht verrückt“, schreibt der Redakteur weiter. „Er weiß auch, dass Europa keinen griechischen Bankrott will, daher die Notwendigkeit, die Debatte über die Eurobonds [= EU-Anleihen] wieder zu eröffnen. Doch wir wissen, dass manche Griechenland aus dem Euro drängen wollen. Die Umschuldung ist nur Honig um unseren Bart. Das ist, als würden wir mit unserem Selbstmord drohen... es bleibt abzusehen, ob das tatsächlich passiert.“

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