Reykjavik und Dublin. Photos von Appelsin und Gariblu.

Zwei Inseln im selben Boot

Island ist schwer angeschlagen von der Wirtschaftskrise und will nun in die EU. Davor, so bedingen sich einige Mitgliedsstaaten jedoch aus, soll Irland den Vertrag von Lissabon annehmen. Eine paradoxe Situation für die beiden Länder. Einige Gemeinsamkeiten mögen sie zwar haben, Europa sehen sie aber mit denkbar verschiedenen Augen, schreibt Le Monde.

Veröffentlicht am 7 August 2009 um 14:51
Reykjavik und Dublin. Photos von Appelsin und Gariblu.

Sobald man die moderne Hauptstadt Reykjavik verlässt und auf der Landstraße durch Mondlandschaften fährt, vorbei an dampfenden Kratern, an speienden Geisern und es nach fauligem Haifischfleisch – einer kulinarischen Spezialität des Landes — riecht, kommt es einem kaum in den Sinn, dass man sich in Europa befindet. Die Isländer waren auch lange keine überzeugten Europäer. Nach dem völligen Zusammenbruch ihres Bankensystems liegt das Land seit Herbst 2008 am Tropf des IWF und das Parlament hat sich endlich aufgerafft, einen Beitrittsantrag in die EU zu stellen. Die EU-Außenminister haben diesen gerade an die Kommission weitergeleitet.

Etwas weiter südlich befindet sich eine weitere Atlantikinsel, scheinbar etwas europäischer: Irland, in dessen Händen das Schicksal Islands liegt. Wenn man an den unvorhersehbaren Charakter der Kelten denkt, kann man sagen, dass es für die Isländer bis zum 2. Oktober spannend wird. An diesem Tag stimmen die Irländer zum zweiten Mal über den Vertrag von Lissabon ab. Dieser Vertrag, abgesehen davon, dass er demokratischer und effizienter ist, erlaubt die EU-Erweiterung.

Ohne Lissabon kein EU-Beitritt für Island, Kroatien, die Türkei oder für die weiteren Kandidaten. Der Grund ist juristischer und politischer Natur, denn Deutschland und Frankreich haben folgendes Prinzip durchgesetzt: "Keine EU-Erweiterung solange der Lissabon-Vertrag nicht in Kraft getreten ist", betonte erneut am 27. Juli in Brüssel Pierre Lellouche, der französische Staatssekretär für europäische Angelegenheiten.

Am folgenden Tag trat er eine Reise auf die beiden Atlantikinseln an. Zwei sonderbare europäische Länder, die nicht nur Inselpatriotismus und die Nähe zur USA gemeinsam haben. Beide Länder sind in Rekordzeit von der Armut zum Reichtum aufgestiegen bis die weltweite Wirtschaftskrise die auf Immobilienkrediten und Spekulation basierende Blase letztlich platzen ließ.

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Irland, 4,4 Millionen Einwohner, früher das Armenhaus Europas, stieg Anfang der 80er Jahre zum "keltischen Tiger" auf, zum zweitreichsten Land Europas nach Luxemburg. Das Land verdankte den rasanten Aufstieg seinem EU-Beitritt von 1973. Mit einer Wirtschaft, die sich auf (steuerlich begünstigte) ausländische Investitionen und auf den Immobilienboom stützte, wurde das Land von der Wirtschaftskrise besonders hart getroffen. Irland war das erste Land, das in Rezession trat.

Island, 320.000 Einwohner, machte Irland lange den Platz des Armenhauses in Europa streitig, bis das Land Mitte der 90er zu eines der reichsten Länder der Welt wurde. Dies dank der Spitzenindustrie, Fischerei und der Bankinvestitionen: Platz 5 auf dem Ranking der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (OECD), Platz 1 auf dem Human Development Index (HDI). Im Herbst 2008 kam dann der Irrsinn der isländischen Banker ans Tageslicht: die ausstehenden Kredite überstiegen das BIP des Landes um das Elffache. Island ist die einzige Industrienation, deren Bankensystem zusammengebrochen ist, das erste Land, das aufgrund der Krise beim Internationalen Währungsfonds (IWF) eine Hilfe beantragt hat. Die Wut der Bevölkerung kam einer Revolution nah.

Zwei Monate vor dem Referendum Irlands, scheiden sich die Wege beider Länder. Island, das bereits den Großteil des Gemeinschaftlichen Besitzstands ratifiziert hat, hat es eilig, der EU beizutreten. Irland, das bereits massiv von der EU profitiert hat (60 Milliarden Euro) hat zum Vertrag von Lissabon "Nein" gesagt, genau in dem Moment, wo das Land vom Nettoempfänger zum Nettozahler wurde. Man sieht dort die EU-Erweiterung mit Skepsis. Für die zweite Wahl sagen die staatlichen Umfragen einen Sieg des "Ja" voraus, doch Umfragen, die von den Parteien in Auftrag gegeben wurden, behaupten das Gegenteil.

Herr Lellouche hat es tunlichst vermieden, in die Wahlkampagne einzugreifen. Schon 2008 gefiel es den Iren gar nicht, dass sich die europäischen Politiker in innere Angelegenheiten einmischten. Ziel seiner Reise in beide Länder war es, die Iren an etwas zu erinnern, was die Isländer schon erkannt haben: die Stärke der EU, um die Krise zu meistern. Am 2. Oktober entscheiden 3 Millionen irische Wähler über das Schicksal von 500 Millionen Europäern. Sagen sie "nein", würde dies nicht nur den Isländern schaden. Letztere sähen darin vielleicht eine späte Revanche der Iren gegen die isländischen Vorfahren, die Wikinger : die holten sich ihre Sklaven... in Irland.

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