Warum nicht auf die samtene Tour?

1992 hat sich die Tschechoslowakei friedlich geteilt und bis heute bereuen die Tschechen und Slowaken diese Entscheidung nicht. Warum also nicht genauso in Belgien verfahren, schlägt der Korrespondent für Zentral- und Osteuropa der Volkskrant vor.

Veröffentlicht am 21 Juni 2011 um 13:48

Man hat es uns schon so oft wiederholt: am 13. Juni 2011 war es genau ein Jahr her, dass in Belgien die Parlamentswahlen stattfanden. Unzählige Male hat man uns daran erinnert, dass die Belgier immer noch keine Regierung haben, dass kein anderes Land so lange ohne Exekutive geblieben ist und, was noch schlimmer ist, dass dieser Zustand noch eine Weile andauern wird.

Ein Aspekt wurde bei den ganzen schlechten Neuigkeiten allerdings vergessen: die Frage, ob es nicht an der Zeit sei, eine Gütertrennung vorzunehmen. Wären Flandern und Wallonien miteinander verheiratet, hätten sie sich schon lange scheiden lassen. Seit dem Beginn des Regionalisierungsprozesses in den siebziger Jahren jagte ein Konflikt über die Kompetenzverteilung den anderen. Selbst ein Therapeut wäre ratlos.

Auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen aber spielen andere Kriterien eine Rolle, als bei zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Idee einer Trennung stand nie hoch im Kurs, nicht nur, weil das die Stabilität gefährden würde, sondern weil auch die meisten von uns finden, dass die Sprach- und Identitätsunterschiede keine ausreichenden Gründe sind, um sich zu trennen. Die separatistischen Bewegungen können in den westlichen Ländern kaum auf die Sympathie der Massen zählen.

Die Sprachgrenze wurde zu einer Mauer

Manchmal gibt es aber schlichtweg keine andere Lösung. Bleibt also die Frage, ob es nicht besser wäre, sich in guter Freundschaft zu trennen, anstatt sich zu bekämpfen, bis die Konsequenzen nicht mehr überschaubar sind.

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Wie in den meisten Ehen war auch im Fall von Belgien eine Scheidung nicht vorgesehen. Die flämischen Nationalisten können zwar das Gegenteil behaupten, aber Belgien war bei der Staatsgründung alles andere als ein künstlich geschaffenes Land.

Selbst die niederländische Diskriminierung konnte der Beziehung zwischen Flamen und Wallonen nichts anhaben. Mit der Einführung der verschiedenen föderalen Einheiten wurde ein Prozess angeschoben, der nicht mehr aufgehalten werden konnte. Die Sprachgrenze wurde zu einer Mauer.

Auch wenn eine Lösung gefunden werden sollte, würde das Problem nur auf eine spätere Krise verschoben werden. Das Beispiel der Tschechoslowakei zeigt, dass in einem solchen Fall eine Trennung besser wäre. Auch dort fragte sich jeder, warum dass Land unbedingt geteilt werden müsse. Genauso wie die Flamen und die Wallonen waren die Tschechen und Slowaken dazu bestimmt, für immer zusammen zu bleiben.

Trotz gegenseitiger Vorwürfe – die Slowaken fühlten sich wie Bürger zweiter Klasse behandelt, die Tschechen klagten, immer die Zeche zahlen zu müssen – gab es für eine Teilung nach dem Zerfall des Kommunismus keine Anzeichen. Im Gegensatz zu den Flamen und Wallonen sprachen die Einwohner der Tschechoslowakei mehr oder minder dieselbe Sprache, die Lage der Belgier war ihnen fremd.

Tschechen und Slowaken bedauern die Trennung nicht

Das hat die führenden Politiker der beiden Parteien des Landes nicht daran gehindert, sich einige Jahre nach der Samtrevolution für eine „Samttrennung” einzusetzen. Gerade mal eine Woche nach der Unabhängigkeitserklärung durch das slowakische Parlament war die Sache geregelt. Am 31. Dezember 1992 hörte die Tschechoslowakei offiziell auf, zu existieren. Nach Meinung der betroffenen Politiker waren die Meinungsverschiedenheiten unüberwindbar geworden.

Die Einwohner waren bei weitem nicht alle mit dieser Entwicklung zufrieden. Nach Umfragen war die Mehrheit der Tschechen und Slowaken dagegen. Aber heute bedauern sie die Trennung nicht. Sogar die als schwächer angesehenen Slowaken haben wirtschaftlich gesehen keinen Schaden genommen. Als Bürger eines unabhängigen Staates können sie sich besser verteidigen, als in den Zeiten der finanziellen Abhängigkeit von den Tschechen. Es sind besonders ihre wechselseitigen Beziehungen, die von der Trennung profitiert haben. Sie sind heute deutlich besser als früher, wo Tschechen und Slowaken noch Landsleute waren.

Die Samttrennung sollte also für Belgien, wo die Gemeinschaftsprobleme weit größer sind, als in der ehemaligen Tschechoslowakei, Beispiel sein. Eine Wirtschaftskrise ist übrigens nicht zu befürchten. Im Gegensatz zu den Tschechen und Slowaken 1992 haben die Flamen und Wallonen die Sicherheit des europäischen Binnenmarktes. Selbst die Streitfrage um die Stadt Brüssel, die eigenständige Region und gleichzeitig Hauptstadt von Flandern ist, steht der Teilung nicht im Weg. Die Ausarbeitung einer belgischen Lösung sollte also keine unmögliche Aufgabe sein, vor allem in Zeiten, wo der Territorialitätsbegriff sehr dehnbar geworden ist. (mz)

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