"Keine Umschuldung, keine Gläubigerbeteiligung." EZB-Chef Jean-Claude Trichet.

Black Box EZB

Für zahlreiche Ökonomen ist eine Umschuldung für Griechenland der einzige Ausweg aus der Schuldenkrise. Eine Option, die von der Europäischen Zentralbank kategorisch abgelehnt wird: das europäische Bankensystem würde zusammenbrechen. Zu einer Refom ist es jedoch nicht in der Lage.

Veröffentlicht am 21 Juni 2011 um 14:52
"Keine Umschuldung, keine Gläubigerbeteiligung." EZB-Chef Jean-Claude Trichet.

Es begann halblaut am Ende des Winters. Doch mit jedem Tag werden die Stimmen lauter und drohender: Wie man es auch nennen mag — Reprofiling, Haircut, Laufzeitverlängerung — die Europäische Zentralbank will nichts von einer Umschuldung Griechenlands wissen, bei der private Anleger zur Kasse gebeten werden.

Bislang lagen die EZB und Deutschland auf derselben Linie, doch heute kommt es zum offenen Streit. Berlin sieht mittlerweile ein, dass seine Umschuldung Griechenlands notwendig ist und dass private Anleger einen Teil der Last mittragen müssen! Berlin hat die Niederlande, Finnland und — mit Abstrichen — den Präsidenten der Euro-Gruppe Jean-Claude Juncker mit ins Boot geholt. Auf der anderen Seite unterstützt Frankreich die Position der EZB ohne Wenn und Aber.

Die europäische Politik und die EZB leugnen die Wirklichkeit und denken, dass ein neuer drastischer Sparplan mit massiven Privatisierungen — trotz des Scheiterns des ersten — Griechenland aus der Sackgasse holen kann. Die Zahlen aber geben kaum Anlass zur Hoffnung. Die Haushaltsschulden steigen unkontrolliert weiter: Bis Ende des Jahres wird die Staatsverschuldung Griechenlands die Marke der 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts übersteigen.

Ökonomen haben errechnet, dass das Land mindestens zehn Jahre lang ein jährliches Nettowachstum von 6 Prozent schaffen müsste, um diese massive Schuldenlast bewältigen zu können. Angesichts seiner schwachen Industrie erwirtschaftet das Land aber ein strukturelles Defizit von fünf Prozent. Und die Sparpläne können die Kassenlage nur verschlimmern. Man muss sich als Tatsache eingestehen: Griechenland ist zahlungsunfähig.

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Lieber ein zahlungsfähiger Sünder...

Warum aber weigert sich die Europäische Zentralbank, dies zuzugeben und schließt prinzipiell eine Umschuldung aus? Es geht dabei letztlich nur um 300 Milliarden Euro, eine sicherlich gewaltige Summe, die aber kaum 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Union repräsentiert. Eine Umschuldung würde Griechenland über Jahre vom Markt verbannen, und das Land könnte sich nicht neu finanzieren, erklären die Banker von der EZB. Tatsache aber ist, dass Athen bereits völlig von den Finanzmärkten ausgeschlossen ist.

„Es ist den Ländern, die ihre Schulden umstrukturiert haben, nicht schlecht ergangen. Sie waren nicht lange vom Markt verbannt. Im Gegenteil. Sie haben in der Regel rasch das Vertrauen der Märkte wiedererlangt: Den Investoren ist ein wieder zahlungsfähiger Sünder lieber als jemand, der an der Tugend erstickt. Vor zwanzig Jahren hatte Polen einen Schuldenerlass ausgehandelt, und dem Land ist es besser ergangen als Ungarn, welches zuerst an seinen Ruf dachte. Schuldenerlasse sind keine Schande“, meint der Wirtschaftswissenschaftler Jean Pisani-Ferry vom Think Tank Institut Bruegel.

Mario Draghi, der designierte EZB-Chef, spricht auch vom Risiko ein „Kreditereignis“ zu verursachen, wenn die Umstrukturierung als ein Fehltritt betrachtet würde. Dabei hat dieses „Kreditereignis“ bereits stattgefunden. Am 13. Juni wertete die Rating-Agentur Standard & Poor's Griechenlands Zahlungsfähigkeit auf die Niedrigstnote CCC ab. Griechenland ist somit weltweit das Land mit der schlechtesten Note. Mit anderen Worten, die Rating-Agenturen haben Griechenlands Schulden quasi abgeschrieben.

Kurz darauf hat die Agentur Moody’s den Ausblick der Banken BNP, Société Générale und Crédit Agricole aufgrund ihres finanziellen Engagements in Griechenland und den damit verbundenen Risiken heruntergesetzt. Dabei hatten diese drei französischen Banken ihr finanzielles Engagement in Griechenland eher kleingeredet. Doch sieht die Realität anders aus. Die Statistiken der Internationalen Bank für Zahlungsausgleich beziffern die griechischen Risikopapiere der französischen Banken auf einen Wert von 15 Milliarden Dollar [10,5 Milliarden Euro].

Gewinne sind nichts als Illusion

Die Undurchsichtigkeit der Zahlen für das reale Engagement der Banken findet sich überall wieder, auch innerhalb der EZB. Einige beziffern die griechischen Risikoanleihen der EZB auf 45 Milliarden Euro. Das Wall Street Journal spricht gar von 120 Milliarden Euro. Wem also glauben? Diese Situation spiegelt den Stand der Dinge wider. Trotz Krise, trotz aller Regulierungs- und Kontrollversprechen bleibt das europäische Bankensystem eine „Black Box“. Unter Berufung auf die Krise haben die Banken erreicht, alle Regeln außer Kraft zu setzen und ihre Bilanzen nach Gutdünken zu frisieren. Die im letzten Jahr durchgeführten Banken-Stresstest, welche die Solidität der 90 größten europäischen Banken unter die Lupe nehmen sollten, haben bis zur Karikatur die Undurchsichtigkeit des Systems vor Augen geführt. Drei Wochen nachdem sie mit Bravour ihre Stresstests bestanden haben, sind drei irische Banken bankrott gegangen!

Diese Situation ist das Ergebnis der Entscheidungen der EZB und der europäischen Regierungen angesichts der Krise. Anstatt die Banken zur Transparenz bei der Vorstellung ihrer Bilanzen zu zwingen und ihre Konten von Giftpapieren zu befreien und anstatt Rekapitalisierung einzufordern, spielten die Verantwortlichen lieber auf Zeit.

Die EZB lieh den Banken mit einem Satz von 1 Prozent soviel Geld, wie sie wollten. Indem sie dieses Geld dann mit Zinsen von 3, 5 oder 8 Prozent weiter verliehen, schien es ihnen ein Leichtes Gewinn zu machen. Im vergangenen Jahr konnten die meisten Institute riesige Gewinne verzeichnen und Glauben machen, dass die Krise überwunden sei. Eine Illusion, wie sich herausstellte, denn das Bankensystem ist nicht reformiert worden.

Eine ähnliche Strategie des Aufschiebens und des Vertagens von Entscheidungen gab es auch bei der Explosion der Griechenland- und Schuldenkrise in Europa. Der erste Rettungsschirm für Athen war zuallererst ein Rettungsplan für die Banken, um ihnen über den Berg und gleichzeitig beim diskreten Entsorgen von lästigen Anleihen zu helfen.

Das Totschlagargument der EZB

Anstatt den Kurs zu ändern, ziehen die Verantwortlichen der Geldinstitute es vor, wie vorher weiter zu machen, und werden dabei von einem Teil der europäischen Regierungen unterstützt. Ein Totschlagargument soll dabei jede Kritik im Keim ersticken: Eine Umschuldung Griechenlands würde eine Kettenreaktion hervorrufen, die schlimmer sein würde als jene nach der Pleite von Lehman Brothers 2008. Das gesamte europäische Bankensystem würde zusammenbrechen, prognostiziert die EZB.

Die EZB kann sagen was sie will, die gesamte Eurozone hat sich bereits angesteckt. Die Entwicklung der Schulden Portugals und Irlands folgt Schritt auf Schritt der Griechenlands. Und die Bedrohung lastet auch auf dem Bankensystem. Die EZB weiß das besser als sonst wer. Seit Monaten ersetzt sie den Interbankenmarkt, um den irischen und portugiesischen Banken Liquiditäten zu verschaffen. Vor ein paar Tagen wurden die spanischen Banken vorstellig: Sie brauchen Liquiditäten, die ihnen sonst niemand mehr gewähren will.

Bis wann werden die Staats- und Regierungschefs Europas das Großreinemachen im Bankensystem noch hinauszögern? „Die Frage ist nicht mehr, ob die griechischen Schulden umstrukturiert werden, sondern wie“, wiederholen zahlreiche Analysten. Die Änderungen können nicht mehr lange aufgeschoben werden. Griechenland und die Eurozone könnten sonst zusammenbrechen.

Aus dem Französischen von Jörg Stickan

Zur Erinnerung

Die unerträglichen Schulden der 90er

„Muss ein Land, das im Schuldenberg versinkt, zu Haushaltskürzungen gezwungen werden? In den 1990er Jahren stellte sich die Frage bei den Vereinbarungen zum Schuldenerlass für arme Länder. Heute müssen die europäischen Staats- und Regierungschefs sich diese grundsätzliche Frage selbst stellen“, schreibt Le Temps.

„Was ist eine erträgliche Schuldenlast?“, fährt das Blatt fort. Diese Frage stand beim Schuldenforum, welches die Weltbank Anfang Juni in Bern organisierte, im Zentrum der Diskussionen. Die Veranstaltung markierte den zwanzigsten Jahrestag des Schuldenabbauplans für Entwicklungsländer, der 1991 von der Schweiz initiiert wurde. Man denke unweigerlich an Griechenland, wenn Peter Niggli, Direktor der NGO Alliance Sud an die „zwanzig Jahre wirtschaftlicher Depression in Afrika erinnert“: Afrika, das „nach der Schuldenkrise der Achtzigerjahre, frisches Geld geboten bekam, um die alten Schulden zu begleichen, während gleichzeitig Sparprogramme eingeführt wurden.“ Niggli erinnerte daran, dass vor zehn Jahren die Schuldenlast eines Entwicklungslands als „unerträglich“ eingestuft wurde, wenn die Zinszahlungen höher als 15 Prozent der Exporterlöse lagen. Ein Wert, der beim Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg bei vier Prozent lag. Vor einem Jahr, als der IWF sich am ersten Rettungsschirm für Griechenland beteiligte, wies er darauf hin er, dass diese Last „einen Spitzenwert von 62 Prozent erreichen könnte und bis 2015 auf 17 Prozent fallen werde.“ Seither geht es mit der griechischen Wirtschaft weiter bergab.

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