Photo von T. Willson

Der große Auslieferungspfusch

Der 2002 eingeführte Europäische Haftbefehl sollte eigentlich Auslieferungen zwischen EU-Mitgliedsstaaten erleichtern, als diese sich nach dem 11. September 2001 in verschärfter Terror-Bedrohung wähnten. Laut neuester Daten betrifft der Großteil der Auslieferungen aber triviale Vergehen. David Cronin behauptet im Guardian, das System sei ein "heilloses Durcheinander", das einen hohen menschlichen Preis fordert.

Veröffentlicht am 7 August 2009 um 16:10
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Lange Zeit brachte mein Bauchgefühl Auslieferung mit Unrecht in Verbindung. Das liegt sicherlich daran, dass ich mitten in repressiven 1980er Jahren in Irland aufwuchs. Damals war die Angst weit verbreitet, dass nach Großbritannien überführte politische Gefangene keinen fairen Prozess bekommen würden.

Nachdem ich das Thema so objektiv wie möglich analysiert habe, sehe ich ein, dass eine Auslieferung in manchen Fällen nötig ist. Aber es scheint mir immer noch so, dass das Gemeinvolk größere Gefahr läuft, vor einem ausländischen Gericht zu stehen, als diejenigen, die wirklich ernste Fragen zu beantworten hätten.

Das gleiche unbehagliche Gefühl überkommt mich, wenn ich mir die letzten Daten von Brüsseler Beamten zur Anwendung des Europäischen Haftbefehls genauer ansehe. Obwohl der Haftbefehl ursprünglich eine Antwort auf die Schrecken vom 11. September und ein Anreiz einer grenzüberschreitenden Polizei und juristischer Zusammenarbeit sein sollte, ist die Ausführung des Verfahrens ein großes Durcheinander.

Letztes Jahr berichtete der Guardian, dass das englische Gerichtssystem nach Beschluss des Verfahrens einer rapide ansteigenden Zahl an Auslieferungsanfragen von Polen gerecht werden musste. Bei vielen von ihnen ging es um so belanglose Gründe wie dem Diebstahl eines Nachtisches. Ein anderes Beispiel liefert ein Zimmermann, der die Kleiderschranktür seines nicht zahlenden Kunden kurzerhand wieder ausbaute. Noch lustiger (für alle außer den direkt Betroffenen, versteht sich) war ein Antrag aus Litauen zu einem Fall von Ferkel-Diebstahl.

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Die neuen Daten, bei denen das Jahr 2008 mit eingeschlossen ist, lassen erkennen, dass Polen weiterhin das Stibitzen von Pudding als grundlegende Bedrohung für die Zivilisation betrachtet. Von beinahe 12.000 Haftbefehlen, die von EU-Staaten ausgingen, die ihre Statistiken freigegeben haben (Großbritannien gehörte nicht dazu), belegten die Polen mit einem weiten Vorsprung von 4.829 den ersten Platz. Allerdings wurden nur 617 der von Polen gesuchten Tatverdächtigen tatsächlich ausgeliefert.

Ähnlich beunruhigend ist eine Reihe von der EU in Auftrag gegebenen "Experten"-Einschätzungen, die zu dem Schluss kommen, dass das System zufriedenstellend laufe. Dabei gibt es genügend Beweise, dass es das nicht tut. Namentlich nicht bekannt und in vielerlei Weise unverantwortlich, bieten die Experten eine Musterstudie des konfusen Denkens. Einige Zeit lang haben sie Verhältnismäßigkeitsrichtlinien gefordert, so dass die nationalen Behörden jedes EU-Landes darüber entscheiden können, ob ein Vergehen schwerwiegend genug ist, eine Ausweisung zu rechtfertigen. Doch während sie Griechenland dafür tadeln, keinen Verhältnismäßigkeitstest durchführen zu wollen, sind sie unglücklich darüber, dass Italien sich für die Einführung eines solchen entschieden hat und dadurch das System verlangsamt.

Die Gutachten der Experten sagen wenig darüber aus, wie es sich anfühlt, in einer meist absurden Situation gefangen zu sein. Dafür brauchen wir die Aktionsgruppe Fair Trials International. Vor kurzem hat sie die missliche Lage von Deborah Dark auf den Tisch gebracht; einer Frau aus London, die vor zwanzig Jahren in Frankreich von einem Drogendelikt freigesprochen wurde. Obwohl sie Cannabis in ihrem Wagen mit sich führte, erkannte ein französisches Gericht an, dass ihr damaliger Freund ihr eine Falle gestellt hatte.

Weil sie schon achteinhalb Monate bis zu ihrem Gerichtsverfahren in Haft gehalten worden war, wäre dies das Ende der Geschichte gewesen. Doch als Dark nach England zurückkehrte, wurde der Fall angefochten und sie 1990 zu sechs Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Doch niemand informierte sie über diese Entscheidung. Sie entdeckte erst 2007, dass Frankreich ihre Auslieferung forderte, als sie zu Beginn eines Türkeiurlaubes festgenommen wurde. Weil es für den Haftbefehl keine Frist gibt, geht ihre Tortur weiter.

Mit unterschiedlichen Justizsystemen, Gesetzen und Sprachen in den EU-Ländern, ist es entscheidend, dass ein Haftbefehlsystem auf rigorosen Schutzmaßnahmen beruht. Es ist unentschuldbar, dass es diese nicht gab, bevor das System in Kraft trat.

Schweden, das derzeit die Präsidentschaft über die EU hält, hat vor kurzem einen "Leitfaden" vorgelegt, um die Situation zu berichtigen. Wie aber Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen bemängelten, ist das Dossier keines von Schwedens Prioritäten, so dass es keine Aussicht auf einen schnellen Durchbruch gibt. Das bedeutet also, dass die Anwendung der Europäischen Haftbefehle bis auf weiteres eine Farce bleibt.

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