Als gäbe es keine Lösungen

Die europäischen Regierungen sind sich zwar über die Diagnose der kranken Weltfinanz und insbesondere der Eurozone einig, sie handeln aber unorganisiert und scheinen den Ernst der Lage nicht erfasst zu haben. Dabei ist die Zeit knapp, notiert Mediapart, und es gibt viel Arbeit.

Veröffentlicht am 10 August 2011 um 16:33

Sie haben miteinander gesprochen! Allein diese Information sollte beruhigend wirken. Mitten in den Sommerferien ist es den Verantwortlichen der wichtigsten Regierungen, Finanzbehörden und den G-7 Mitgliedern gelungen, ein Telefon aufzutreiben. Wenn das nicht den Ernst der Lage unterstreicht!

Aber man ist sich quasi über nichts einig. Die Politiker warten einmal mehr die Reaktion der Finanzmärkte ab, um ihre Position zu definieren und in aller Hast noch ein x-tes Notfallprogramm zu basteln.

Die Herabstufung der amerikanischen Note ist dabei auch eine Herabstufung ihrer Politik. Sie zahlen jetzt für den Fehler, während der Krise von 2008 und der Pleite von Lehman Brothers keine geeigneten Maßnahmen ergriffen zu haben. Ideologie, Inkompetenz und Angst der politisch Verantwortlichen haben diesen einmaligen Moment vertan, die Kontrolle über ein zügelloses Finanzsystem zurückzugewinnen. Die kleine Atempause zwischen 2009 und 2010 machte sie glauben, alles könnte wie zuvor weitergehen. Aber eine Verleugnung der Realität hat noch nie zur Politik getaugt.

Auf keinen Fall die Banken anfassen

Das System, völlig von der Realität abgehoben, ist von Blase zu Blase, von der maskierten bis zur latenten Krise im Jahr 2007 zusammengebrochen. Im September 2008, mit der Pleite von Lehman Brothers, erreichte die Verwirrung ihren Höhepunkt.

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In aller Eile haben die Zentralbanken die erforderlichen Liquiditäten lockergemacht, um den völligen Zusammenbruch abzuwenden. Die Regierungen eilten ihren Banken zu Hilfe und versuchten, die Volkswirtschaften zu retten. Wenn die Staaten heute in so einer brenzlichen Situation sind, dann, weil sie ihre eigenen Bilanzen aufs Spiel gesetzt haben, um die Finanzmärkte zu retten.

Doch haben die Regierungen aus der Lehman-Pleite keine Lehren gezogen, zumindest nicht die richtigen. Die allgemeine Schlussfolgerung, die von der Finanzwelt zugeflüstert wurde, lautete, dass man auf keinen Fall die Banken anfassen dürfe, denn sonst ginge die Weltwirtschaft Bankrott. Moral Hazard setzte sich durch. Den Banken, too big to fail, wurde das Recht zugestanden, Regierungen permanent erpressen und sich uneingeschränkt in den öffentlichen Kassen bedienen zu dürfen. Dies alles natürlich im Namen der Garantien für die Anleger, die wie der Kleinaktionär den Börsen als Alibi dienen. Seit langem sind sie jedoch ausgeschlossen.

Im Gegenzug? Nichts. Keine Transparenz, keine Rechenschaft abgelegt, keine Aktie, nicht einmal das. Die Aktionäre, von denen Risikobereitschaft erwartet wird, wurden nicht ein einziges Mal gefragt. Nur Großbritannien, das zweifelsohne das Finanzsystem besser versteht, verstaatlichte seine größten Banken. In Frankreich dagegen ging in dieser Sache bis zur Karikatur: Die Redaktion des französischen Rettungsplans wurde Michel Pébereau, dem Vorstandsvorsitzenden der Bank BNP-Paribas, anvertraut.

Schwarze Löcher bleiben

Die amerikanische Bankaufsicht hat ein bisschen aufgeräumt, indem sie die Banken zur Rekapitalisierung zwang. Zig Geldinstitute mussten schließen oder wurden von anderen übernommen. In der Eurozone gab es nichts dergleichen. Die Banker wussten, was sie taten. Sie brauchten nur Zeit und das notwendige Geld, um sich zu erholen. Die Stresstests wurden zur Farce.

Aber auch die in aller Panik während des G20-Gipfels Ende 2008/Anfang 2009 angekündigten Maßnahmen wurden nie umgesetzt. Man erinnere sich: „Jetzt ist Schluss mit Steueroasen! Schluss mit Ratingagenturen! Schluss mit Spekulation!“

Und nach der von der OECD gedeckten Maskarade einer vermeintlichen Besserung florieren Steueroasen wie nie zuvor. Die Ratingagenturen, die nach der Herabstufung der Vereinigten Staaten einmal mehr der öffentlichen Schmach ausgesetzt sind, mussten sich keine einzige Sekunde Sorgen machen. Sie handeln weiterhin völlig verantwortungslos. Europa hat nicht einmal wie versprochen seine eigene Ratingagentur geschaffen.

Das System ist erschöpft

Und der Spekulation geht es auch bestens. Keine einzige Maßnahme wurde ergriffen, um beispielsweise Leerverkäufe von Staatsanleihen zu unterbinden. Die Credit Default Swaps CDS, Kreditausfallversicherungen, wahre Massenvernichtungswaffen auf dem Anleihenmarkt, bleiben ein schwarzes Loch: Die Transaktionen entziehen sich jeder Kontrolle. Die Europäer haben nicht einmal die Möglichkeit herauszufinden, was überhaupt gespielt wird, da sie komplett auf Informationen von privaten US-Institutionen abhängen.

Das neue Nachbeben der Krise erlaubt kein Entweichen mehr. Das System ist erschöpft. Aber was tun, um diesen Schuldenberg, der vom deregulierten Währungs- Finanzmarkt vererbt wurde, zu regeln?

Zunächst ist es dringend notwendig, die Spekulation zu brechen. Die Staaten können nicht zulassen, dass unter dem Vorwand, es sei unangemessen, den Kapitalmarkt anzurühren, gesamte Volkswirtschaften verwüstet werden. Sie verfügen über Waffen, wenn sie denn bereit wären, diese anzuwenden. Das geht über ein Verbot von Leerverkäufen von Staatsanleihen über — eventuell — momentane Kapitalverkehrskontrollen, bis hin zur Mobilisierung der Zentralbanken.

Schluss mit Tontaubenschießen auf Staatsanleihen

Zweitens muss Europa Maßnahmen ergreifen, um dem Tontaubenschießen der Finanzmärkte auf die Staatsanleihen der Eurozone ein Ende zu bereiten. Die Politiker Frankreichs meinen einer nach dem anderen, dass sie die Patentlösung gefunden hätten: Föderalismus, sagen sie, und springen, frei nach Charles de Gaulle, auf wie kleine Ziegen. Dies erfordere bis zur Einführung von Eurobonds eine Stärkung des Stabilitätsfonds. Das Problem ist nur, dass Deutschland dagegen ist. Und Berlin hat Recht: Es wäre nichts anderes als mit den Haushalten diesmal aller Länder zugleich zu spielen, um die Finanzmärkte zufrieden zu stellen. Die wahre Lösung wäre eine Änderung des Status der Europäischen Zentralbank. Sie muss akzeptieren für die Euroländer als Lender of last resort Kreditgeber der letzten Zuflucht zu fungieren.

Dann müssen nach und nach die kleinen Deregulierungen des Finanzsystems und der Schuldenwirtschaft beseitigt werden. Auch wenn es wichtig ist, die Haushalte in Ordnung zu bringen und Steuern gerechter zu verteilen, die Reduzierung der Haushaltsdefizite — die einzige von den Regierungen verfolgte Politik — kann nicht allein die Antwort auf das gewaltige Problem sein. Diese Politik kann nur zur Sparpolitik, zur Verarmung und letztlich zum politischen Abenteurertum führen.

Und dann muss produziert werden

Der Schuldenberg ist eh so gewaltig, dass ein einziges Instrument nicht ausreichen wird. Ein Teil der Schuldenlast wird auf die eine oder andre Weise erlassen werden müssen, was einmal mehr die Frage der Kontrolle über das Bankensystem aufwirft. Man wird auch mit Währungsabwertungen den überschüssigen Liquiditäten und den damit verbundenen Wertverlusten Rechnung tragen müssen. Die westliche Welt kann nicht in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit alles importieren, ohne selbst irgendwelche Reichtümer zu schaffen. Eine Produktionsbasis, die diesen Namen verdient, muss neu geschaffen werden.

Es gibt also Lösungen, nur sind sie weit von den Dogmen und Vorurteilen der Politiker entfernt. Doch die Politik muss sich bewegen. Die Versuchung noch mehr Zeit zu gewinnen und Entscheidungen aufzuschieben, kann nur zu einer Tragödie führen.

Aus dem Französischen von Jörg Stickan

Standpunkt

Das Ende der neosozialistischen Verrücktheiten

Jetzt erleben wir den „Bankrott des Neosozialismus“, schreibt Tomasz Wróblewski, Chefredakteur der Dziennik Gazeta Prawna.

„2008 machten linke Journalisten und Ideologen wie Naomi Klein oder Grzegorz Kołodko [ein polnischer Wirtschaftsexperte und ehemaliger Finanzminister] den Kapitalismus für alle Übel der Welt verantwortlich. Nach zwei vollen Jahren des staatlichen Interventionismus, Konjunkturhilfen, Verstaatlichungen, Steuererhöhungen, Bankenregulierungen und Gehaltskürzungen für Wirtschaftsbosse ist die Welt weder gerechter noch reicher geworden.“

Aber, so schreibt Wróblewski, „der erneute Konjunkturrückgang kann nicht gierigen Bankern und herzlosen Konzernen in die Schuhe geschoben werden. Die roten Zahlen in internationalen Finanzindizes sind auf Fehler von Regierungen zurückzuführen, die nach 2009 anordneten, die Märkte vor den Marktkräften zu retten.“

Laut Wróblewski fand während dieser Zeit „eine kurze aber aggressive Episode sozialistischer Weltgerechtigkeit“ statt, in der „Politiker gegen jede Vernunft beschlossen, dass sie besser mit Geld umgehen können als Banker, und dass sie Angebot und Nachfrage besser verstünden als die Märkte.“

Aber „jede Wolke hat ihren Silberstreifen, und die Märkte verhängen letzten Endes immer einen Realitätscheck über solche linken Torheiten“, schließt Wróblewski.

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