Nachrichten Endstation für den Euro 2/4

Der Schneeballeffekt

Fortsetzung der Fiktion aus Le Monde „Endstation für den Euro“: Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, den Euro-Stabilitätsfonds für unrechtmäßig zu erklären, scheinen die 27 EU-Mitglieder sich mit der Idee abzufinden, das ein Land aus der Eurozone aussteigt.

Veröffentlicht am 14 August 2011 um 22:00

Nacht des 17. Mai 2012. Erneut ist ein Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs der Siebenundzwanzig einberufen worden, um die Wunden der Eurozone zu heilen. Trotz später Stunde ist in der Vorhalle des Juste Lipse, dem Sitz des Rats der Europäischen Union, ein eifriges Tippen zu hören. Einige Journalisten, die Beine auf dem Tisch ausgestreckt, beißen in ekelhafte Sandwichs. Andere nehmen vor ihren Mikrophonen die Kommentare für ihre Zeitungen oder Radiosendungen des kommenden Tages auf.

„Brief GEN-SEK sofort Raum FR 2.25."

Die SMS des Sprechers der französischen Delegation kommt um halb eins. Die Anwesenheit des Generalsekretärs des Elysée-Palasts signalisiert den Ernst der Lage. Kurz nach ein Uhr nachts betritt Xavier Musca endlich den Raum 2.25. Er geht an den vollbesetzten Reihen vorbei und setzt sich auf einen einfachen Klappstuhl vor die zahlreichen Journalisten, die jede der Reisen des französischen Staatschefs begleiten. Ihre Gesichter sind ihm vertraut.

„Ich werde Ihnen hier nicht die Karlsruher Entscheidung erläutern. Sie kennen sie genau so gut wie ich. Die Richter haben vor allem ihre Bedenken hinsichtlich der Steuerhoheit des Parlaments zum Ausdruck gebracht. Im Wesentlichen geht es darum, dass die deutschen Abgeordneten über die von EZB und IWF mit den verschiedenen Ländern ausgehandelten Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung abstimmen sollen. Ich würde sagen, das ist ein deutsch-deutsches Thema.“

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Er macht eine Pause und führt dann fort.

„Die zweite Forderung hingegen betrifft uns alle. Das Gericht sorgt sich um den Moral Hazard, der durch den Rettungsschirm entstehen würde. Das ist kein neues Thema. Die Entscheidung zwingt uns, frontaler als bisher dies Thema anzugehen. Wir werden also unsere Arbeit beschleunigen. In den kommenden Wochen werden Klaus Redling, Chef des Europäischen Finanzaufsichtssystems, der EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung Olli Rehn und EZB-Chef Mario Draghi gemeinsam mit der EU-Bankenaufsichtsbehörde sich um diese Frage kümmern. Ich kann Ihnen jetzt noch keine Details geben. Die Beschlüsse des EU-Rats, die morgen bekannt gegeben werden, kündigen lediglich die Schaffung des "Kirchberg-Clubs“ an.

Ausgerechnet Kirchberg, Hochburg der EU-Richter und größte Geldwaschanlage der Welt, denkt Leesby. Auf dem Kirchberg-Plateau bei dem gleichnamigen luxemburgischen Städtchen befindet sich in der Tat seit den Sechziger Jahren der massive düstere Bau des Europäischen Gerichtshofs. Vor nicht allzu langer Zeit haben sich dort in gläsernen Stahlbauten unzählige Offshore-Firmen und auf Asset-Management spezialisierte Filialen von Großbanken niedergelassen. Seit Sommer 2010 hat auch das Europäische Finanzaufsichtssystem, welches den Euro stabilisieren soll, dort seinen Sitz.

„Welches wird die Aufgabe dieses Clubs sein?“, fragt ein Journalist.

— Eine Umschuldungs- oder Schuldentilgungsprozedur zu entwickeln, die alle Gläubiger, ob privat oder öffentliche Hand, mit einbezieht.

— Wie steht EZB-Präsident Mario Draghi dazu?

— Das müssen Sie ihn fragen. Aber ich bin überzeugt, dass sich die Europäische Zentralbank konstruktiv an den Gesprächen beteiligen wird.“

Der Zentralbanker war in Wirklichkeit stinksauer und machte auch kein Geheimnis daraus. Als es ein Jahr zuvor, während eines angeblich geheimen Treffens in Luxemburg, anvisiert wurde, dass Griechenland die Eurozone verlassen solle, hatte sein Vorgänger den Saal wutentbrannt verlassen.

Seit dem Tag nach dem Bankrott von Lehman Brothers, dem 15. September 2008, sollte die Europäische Kommission eigentlich daran arbeiten, einen Weg zu finden, wie man eine Bank pleite gehen lassen kann, ohne dass das gesamte System zusammenbricht. Das ist nun dreieinhalb Jahre her. Und die Kommission hat kaum Fortschritte gemacht.

Im Presseraum heben sich noch viele Hände. Der Korrespondent einer französischen Tageszeitung, der einen bekannten Blog unterhält, ergreift nun das Wort.

„Letztlich läuft es darauf hinaus, dass Sie, um die Souveränität des deutschen Parlaments zu schützen, dessen Haushaltshoheit auf die anderen europäischen Länder erweitern. Glauben Sie wirklich, dass die anderen das hinnehmen werden? Haben Sie keine Angst, dass das, was für die deutsche Verfassung notwendig ist, sich in Spanien, Griechenland oder Portugal als verfassungswidrig herausstellen könnte?

— Ich überlasse Ihnen Ihre freie Interpretation.

— Könnten die Arbeiten des Kirchberg-Clubs daraus hinauslaufen, dass dieses oder jenes Land zumindest momentan den Euroraum verlassen muss, wie das manche in Deutschland vorschlagen?

— Das ist nicht im Geist der Sache.

Zwei Uhr nachts ist verstrichen. Der Generalsekretär verlässt den Raum, wie er gekommen ist, ohne Akten und Notizen. Nur die Ränder unter seinen Augen sind noch etwas dunkler.

Während sich die Menge im Saal langsam auflöst, wendet sich Leesby ans seine Nachbarin.

„Meinst du die werden damit die Finanzmärkte beruhigen?“

Die Märkte, nein. Aber den Bundestag, vielleicht.“

Fortsetzung folgt...

Aus dem Französischen von Jörg Stickan

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