Ioana Miscov, eine der Patienten im Leprosorium Tichileşti, und ihre Tochter.

Das letzte Leprosorium Europas

Im rumänischen Donaudelta beherbergt das letzte Leprakrankenhaus Europas in Tichileşti 19 Patienten. Beschreibung eines Ortes, der von den Behörden lange verheimlicht wurde.

Veröffentlicht am 12 September 2011 um 14:49
Ioana Miscov, eine der Patienten im Leprosorium Tichileşti, und ihre Tochter.

Offene Wunden, bloßgelegte Knochen, fehlende Finger. Ein Grauen! In den 90er Jahren beschrieben die Journalisten mit diesen Worten einen Ort, den es offiziell gar nicht gab: das Leprakrankenhaus in Tichileşti, Landkreis Tulcea (im Osten Rumäniens). Innerhalb der letzten 20 Jahre hat sich die Situation geändert. Ein Mann setzte seine medizinischen Kenntnisse und seine Kompetenz in Kommunikationsbelangen ein und krempelte das Image des Siechenhauses um: Hier leben Menschen, deren Krankheit, Lepra, man einst für unheilbar hielt.

Als er 1991 in Tichileşti ankam, kannte Răzvan Vasiliu Leprakranke nur aus Büchern. Er fand 61 Patienten vor. Heute sind es noch 19 und der 53-Jährige ist der einzige Lepraspezialist in Rumänien.

Tichileşti war zunächst ein Kloster, das sich in einem nichtinstitutionellen Rahmen um Aussätzige kümmerte. „Das im Jahr 1900 offiziell gegründete Leprosorium wurde von den Bulgaren aufgelöst, als sie die Region Dobrudscha übernahmen. 1924 veröffentlichte der große rumänische Reporter Brunea Fox den brisanten Bericht „Fünf Tage unter Leprakranken“, der den Staat und die Bevölkerung sensibilisierte. In einer Augustnacht 1928 wurden die Überlebenden auf Karren zurückgebracht. Es waren 180“, erzählt Răzvan Vasiliu.

Bis vor kurzem aus Unwissenheit eingesperrt

„Bis 1990 wurde das Leprosorium nirgends erwähnt, doch die Patienten litten keine Not“, erinnert sich der Arzt. „Man dachte, sie seien schon tot und wüssten es nur noch nicht. Doch ich behandelte diese Patienten wie Menschen. Es kommt vor, dass sie miteinander streiten, und dann muss man sie beruhigen. Das letzte Mal ging es darum, ob eine Fernsehserie oder ein Fußballspiel angeschaut werden sollten. Ich habe beide Seiten angehört und ihnen dann meinen Fernseher gegeben“, lacht er.

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Der Arzt bewohnt ein Haus in dem vor über 60 Jahren gebauten „Wohnkomplex“. Für 2600 Lei (800 Euro) im Monat lebt er dort von Montag bis Freitag. Er ist einer der seltenen Ärzte, die kein Einkommen aus Schmiergeldern beziehen. Ein Leprakranker bekommt 80 Bani (0,20 Euro) pro Tag. Der Doktor ist der Chef, doch die Leprakranken werden durch einen „Vorsteher“ vertreten.

Bis vor kurzem wurden die Leprakranken aus eher ästhetischen Gründen oder aus Unwissenheit eingesperrt. Heute kann jeder Patient das Krankenhauses in Tichileşti mit einer Ausgangserlaubnis beliebig verlassen. Die meisten sind alt, haben keine Familie und können nicht alleine zurechtkommen. Ganz zu schweigen davon, dass sie ab und zu ein kleines Stück ihres Körpers verlieren...

Manchmal verlieren sie kleine Stückchen...

Der Star des „Reservats“, das älteste Mitglied der Gemeinschaft, ist Hima Dumitru, eine baptistische Ukrainerin aus Chilia Veche. Die 83-Jährige war noch ein junges Mädchen, als die Krankheit an ihr diagnostiziert wurde. Seit 65 Jahren lebt sie in demselben kleinen Häuschen auf einem Hügel über dem Tal. „Nach dem Krieg hat mir der Standbildmann Pillen gegeben [im Hof des Krankenhauses steht eine Büste von Dr. Alexandru Filipeanu, der hier von 1938 bis 1959 arbeitete].

Damit haben sie mich drei Jahre lang behandelt. Ich war übersät mit roten, schmerzhaften Lepromen, die dann verschwunden sind. Ich hätte weggehen können, doch ich habe mich mit einem jungen Waisenmädchen angefreundet und dann ihren Vater geheiratet.“ Bevor sie sich wieder ihrer Bibellektüre zuwendet, sagt sie: „Die Lepra ist eine große Dame.“

In Zusammenarbeit mit dem Landkreisrat in Tulcea hat Dr. Vasiliu innerhalb des Leprakrankenhauses ein Altersheim eröffnet. „Es ist heute das modernste der ganzen Region und wir betreuen hier 30 Senioren. Wir wollten nicht mehr so isoliert sein. Vielleicht wird Tichileşti ja ein geriatrisches Krankenhaus oder eine Sterbeklinik...“, meint der sympathische Mediziner verträumt. (pl-m)

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