Graffiti im Zentrums Madrids.

Hier sind Europas Vollzeit-Prekäre

Mit der Wirtschaftkrise entwickelt sich eine neue soziale Klasse in Europa. Von den Soziologen "Prekariat" genannt, handelt es sich um junge Menschen, ohne Hoffnung auf einen korrekten Job und Wohlstand.

Veröffentlicht am 15 September 2011 um 14:40
PacoPan  | Graffiti im Zentrums Madrids.

Die polnische Jugend von heute ist die erste "saturierte" Generation. Laut Regierungsbericht Młodzi 2011 ("Jugend 2011") sind die jungen Polen zwischen 15 und 34 Jahren ihren westeuropäischen Kameraden sehr ähnlich: Sie sind offen hedonistisch, frenetische Konsumenten, stehen der Ehe skeptisch gegenüber, pflegen ihren Individualismus, wollen aber der Gemeinschaft nützen.

Sie werten den Beruf immer noch als Grundlage für ihren zukünftigen Erfolg, haben aber immer mehr Schwierigkeiten einen Arbeitsplatz zu finden. Die Polen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren stellen mehr als die Hälfte der registrierten Arbeitslosen, eine Quote doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt von 11,7 Prozent (Stand Juli 2011).

Ein sozialer Kontext mit hohem Risikofaktor, wie in Westeuropa zu sehen ist, wo seit einigen Jahren regelmäßig Jugendliche in Krawallen ihrer Wut Luft machen. Die brennenden Pariser Vororte, die Straßenschlachten in im Zentrum von Athen, die Massendemonstrationen in Madrid und die jüngsten Ausschreitungen in London sind klare Anzeichen einer sozialen Krise.

Jedes Zukunftsprojekt im Keim erstickt

Die jungen Menschen sind die Hauptopfer der Wirtschaftskrise. Derzeit finden 20,4 Prozent der jungen Europäer zwischen 15 und 24 Jahren keinen Arbeitsplatz. Das ist rund ein Drittel mehr als 2008. Diese Rate ist jedoch nur ein europäischer Durchschnittswert, der die Unterschiede zu Ländern verschleiert, die besorgniserregende Werte zu verzeichnen haben. In Spanien liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 42 Prozent, in den baltischen Staaten, in Griechenland und der Slowakei bei 30 Prozent, in Polen, Ungarn, Italien und Schweden bei 20 Prozent.

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Und wenn die jungen Menschen einen Job finden, ist dieser selten stabil. Slowenien und Polen sind Weltmeister der Zeitarbeit. 60 Prozent der Beschäftigten unter 25 Jahren haben einen befristeten Arbeitsvertrag. In Frankreich, Deutschland, Schweden, Spanien und Portugal ist die Lage kaum besser. Dort liegt der Anteil bei über 50 Prozent.

Unterbezahlung ist ein weiteres, weit verbreitetes Phänomen in Spanien, Frankreich und Portugal. Junge Spanier im Alter zwischen 16 und 19 Jahren bekommen nur 45,5 Prozent des Gehalts eines Erwachsenen; zwischen 20 und 25 Jahren sind es 60,7 Prozent. Die niedrigen Löhne haben einen direkten Einfluss auf die steigende Erwerbsarmut, Menschen, die trotz Jobs nicht für sich selbst aufkommen können. Die arbeitenden Armen sind in Rumänien (17,9 Prozent) und Griechenland (13,8 Prozent) am zahlreichsten, gefolgt von Spanien (11,4 Prozent), Lettland (11,1 Prozent) und Polen (11 Prozent).

Was all diese Menschen verbindet, ist die unsichere Zukunft, die jedes Projekt im Keim erstickt, sowie die schwachen Einkommen, die ihnen kein anständiges Leben erlauben. Auf Lateinisch bedeutet Precarius "durch Gebet erhalten". In der modernen Soziologie definiert man so Menschen in der Schwebe zwischen Wohlstand und Armut, ohne soziale Absicherung, denen ständig der soziale Abstieg droht.

Wir sind heute Zeugen der Geburt einer neuen, globalen Klasse, meint Guy Standing, Professor für Wirtschaftssicherheit an der Universität Bath und Autor des Buchs The Precariat: The New Dangerous Class ("Das Prekariat: die neue gefährliche Klasse").

Industriestaaten im Pakt mit dem Teufel

Zwanzig Jahre lang ist es den westlichen Regierungen gelungen, die Prekarisierung der Mittelschicht zu verschleiern. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien subventionieren Niedriglöhne über das Steuersystem. In Dänemark, Deutschland und den Niederlande beruht die Sozialpolitik auf einem System, welches die Rückkehr in den Arbeitsmarkt fördert, um so die Arbeitslosenstatistik um jeden Preis zu schönen.

In Frankreich, Italien du Spanien unterstützt der Staat die Jugendlichen indirekt über Zahlungen an die Eltern, welche ihre arbeitslosen Kinder ernähren. Die Regierungen der Industrieländer haben einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Ein derartiges System konnte nicht ewig fortbestehen. Und es ist zusammengebrochen.

Die Finanzkrise droht, Europa in die Pleite zu führen und die Staaten können sich es schlicht nicht mehr leisten, das Prekariat mittels Finanzspritzen zu verbergen. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosenquote während der Rezession 2009 rasant, was eine neue Welle der Verarmung hervorrief. 97 Prozent der im letzten Jahr geschaffenen britischen Arbeitsplätze sind Zeitstellen. In Deutschland sind rund die Hälfte der neuen Stellen befristet; ganz zu schweigen von den 7 Millionen Menschen mit "Minijobs" für weniger als 400 Euro monatlich. In Portugal arbeiten 300.000 Menschen Teilzeit. In Frankreich leben 20 Prozent der Studenten unter der Armutsgrenze.

Wasser auf den Mühlen der Populisten

Für Guy Standig unterteilt sich das europäische Prekariat in drei Gruppen. Die erste ähnelt dem industriellen Lumpenproletariat. Es handelt sich um eine oft kriminalisierte, gewaltbereite Minderheit, so wie es vor ein paar Wochen in den Straßen Londons zu beobachten war. Die zweite Gruppe sind junge Menschen mit Ausbildung, die auf den Arbeitsmarkt vorbereitet sind, aber keine Möglichkeit mehr sehen, über die Runden zu kommen und von einer besseren Welt träumen.

Diese Jugend ist im Mai in Madrid auf die Straße gegangen. Doch die größte Gruppe sind die älteren Arbeitnehmer: Im Laufe der Jahre haben sie ihren Wohlstand und sozialen Status verloren. Sie finden sich oftmals am Rand der Gesellschaft wieder und machen Ausländer für ihren Abstieg verantwortlich.

Diese Gruppe sei ein wahrer Glücksfall für Populisten und eine echte Gefahr für unser soziales Modell, warnt der Wirtschaftswissenschaftler. Wenn das Prekariat eine Bedrohung darstellt, dann weniger wegen der Krawalle, auch wenn diese in den kommenden Jahren vermutlich zunehmen werden. Die wirkliche Gefahr liegt im Aufstieg der immigrationsfeindlichen und antieuropäischen Populisten, die von einem wachsenden Anteil der Bevölkerung unterstützt werden.

Der kommende Generationskonflikt

Auf dem Prekariat der Älteren gedeihen Marine Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in den Niederlanden, die "Wahren Finnen" in Finnland oder der "Schwedendemokraten" in Schweden. Sollte sich das junge Prekariat politisieren, würde es vermutlich mit der extremen Linken, mit anarchistischen Gruppierungen oder Neokommunisten anbändeln.

Das verheißt nichts Gutes für Europa. Angesichts der Schwäche der europäischen Staats- und Regierungschefs bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise, ist es nur schwer zu glauben, dass sie die drohende soziale Krise besser meistern werden. Es geht dann nicht mehr um nationale Interessen, sondern um Generationskonflikte: Der Konflikt spielt sich auf nationaler Ebene zwischen den Jungen und den Alten ab. Die alternde europäische Politik-Elite verteidigt heute vor allem die Interessen ihrer Generation. Dies kann den Frust der jungen Arbeitslosen nur schüren. (js)

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