Er ist der Chef. José Manuel Barroso in Lausanne, Schweiz, 2007 (AFP).

Der falsche Mann zur richtigen Zeit

Ohne großartige Begeisterungsstürme auszulösen wurde Jose Manuel Barroso erneut zum Präsidenten der Europäischen Kommission gewählt. In The Independent behauptet Adrian Hamilton, dass die Wahl einer weniger bürokratischen Führungsperson zum aktuellen Zeitpunkt für Europa sicher besser gewesen wäre. Schließlich braucht es mehr als je zuvor jemanden, der sich nicht davor scheut, Probleme wie die Rezession, den Klimawandel und die Energiesicherheit in Angriff zu nehmen.

Veröffentlicht am 17 September 2009 um 15:44
Er ist der Chef. José Manuel Barroso in Lausanne, Schweiz, 2007 (AFP).

Es ist wirklich nicht wichtig, wie viele großartige Reden die europäischen Führungskräfte über Demokratie schwingen, denn immer werden die Handlungen und Entscheidungen der EU diesen widersprechen. Dass das Europäische Parlament bei der gestrigen Wahl José Manuel Barroso für die kommenden fünf Jahre wieder zum Präsidenten der Europäischen Kommission gemacht hat, ist das beste Beispiel dafür.

Hier wurde ein Mann wiederernannt und ihm der Job eines EU-Spitzenbeamten anvertraut, obwohl keiner von ihm so wirklich überzeugt zu sein scheint. Und das zu einem für Europa entscheidenden Zeitpunkt. Noch immer ist die Rezession im Gange und auch der Klimawandel, die Energiesicherheit und die internationalen Beziehungen stellen riesige Herausforderungen dar.

Der einzige Kandidat

Das soll jedoch nicht bedeuten, dass wir Barroso, den ehemaligen rechtszentristischen Regierungschefs Portugals, in besonderer Weise beleidigen möchten. Er hat sein begrenztes Bestes getan, um sich seinen Weg durch die verworrene Politik der neuen "Verfassung" und deren Ablehnung durch die irischen, französischen und niederländischen Wähler zu schlängeln. Jedoch ist eine Sache ganz sicher: Vor fünf Jahren wurde er zum ersten Mal zum Präsidenten der EU-Kommission gewählt, weil die europäischen Mächte sich nicht auf eine Alternative einigen konnten. Nun wurde er wiedergewählt, weil die Führungspersonen noch immer nicht fähig waren, sich gemeinsam für einen anderen Kandidaten zu entscheiden. Und das obwohl der französische Präsident Sarkozy sich eigentlich entschieden genug für einen Franzosen einsetzte, während es die linksliberalen Parteien des Parlamentes tatsächlich nicht geschafft haben, einen brauchbaren eigenen Kandidaten aufzustellen.

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Aber wir können Europa nicht für alles die Schuld geben. Man sehe sich nur die britische "Quangokratie" an, wo quasi-autonome halbstaatliche Organisationen regieren. Die zeigt uns, dass jeder Job, über dessen Vergabe man abstimmen muss, fast nie an die geeignetste, sondern an die am wenigsten angriffslustige Person vergeben wird. Ein aus 27 Führungspersonen bestehender Hexenzirkel, der in der EU einen Gönnerschafts- und Klientelverein für die Kandidaten der einzelnen Länder sieht, wird sich nicht für einen außerordentlichen und herausragenden Bürokratie-Chef entscheiden, der sie zwangsweise herausfordern und Umorientierungen von ihnen verlangen würde. Jedoch ist die EU – ob sie das nun beabsichtigt hat oder nicht – zu einer der erfolgreichsten Gemeinschaften geworden, wenn es darum geht, eine gemeinsame Politik für die Belebung der Wirtschaft, die Zielsetzungen in Sachen Umwelt, die Initiativen für die Außenpolitik, oder Lösungen für Verteidigungs- bzw. Sicherheitsprobleme zu entwickeln.

Plan-, ziel- und zwecklose Bürokratie

In einer so wichtigen Zeit ist es jedoch purer Wahnsinn, eine oberste Führungskraft wiederzuwählen, der es weder gelingt, die Institution vorwärtszutreiben, noch die Politik, auf die man sich geeinigt hat, in den entsprechenden Gebieten zur Anwendung zu bringen. In diesem Sinne handelt es sich dann um einen noch viel größeren Wahnsinn, wenn die EU-Machthaber weiterhin an der Durchsetzung eines Verfassungsvertrages festhalten, der anlässlich des Referendums so eindeutig von den Iren abgelehnt wurde, und der bei jeder neuen Meinungsbefragung der gesamten europäischen Bevölkerung für alles andere als Begeisterung sorgt. Wenn einem ein gemeinschaftlich entschiedener Anstoß in Richtung Zukunft für ganz Europa wichtig sein sollte, so wäre es das Beste, wenn die Iren den Vertrag ein zweites Mal ablehnen würden.

Wenigstens würde dies die europäischen Machthaber dazu zwingen, sich gemeinsam für eine andere Lösung einzusetzen, um die Kurve zu kriegen. Wenn das nicht passiert, dann befinden wir uns wieder auf dem guten alten Weg: Hinterzimmer-Verträge über die Postenvergabe, verwässerte politische Strategien, sowie plan-, ziel- und zwecklose Bürokratie. Mit der Wiederwahl Barrosos will die Führungsschicht der EU den Iren vermutlich klar machen, dass sie ihren Willen durchsetzen wird. Jedoch zeigt dies auf eine hochgradig entmutigende Art, dass man nicht das Geringste dafür tut, das demokratische Defizit auszufüllen. Regelrechter Verrat am europäischen Projekt ist das. Und – nicht zuletzt in London – wird man diesen nicht als den Weg begrüßen, der Europa wiederbeleben könnte, sondern als Mittel, Europa von der Agenda zu streichen.

INSTITUTIONEN

Der zerbröckelnde Besitz des José Manuel Barroso

Die EU erhält einen (als Präsidenten des Europäischen Rates verkleideten) Präsidenten, sowie einen (als Hochkommissar verkleideten) Außenminister. Und auch die Kompetenzen des Europäischen Parlaments werden sich erweitern. Und selbst wenn er keine Krone tragen und keine Schlösser und Landbesitze sein Eigentum nennen kann, so wird José Manuel Barroso, der momentan keinerlei wirkliche Macht ausübt, wohl zum kontinentalen Amtskollegen der britischen Königin. Genau das wird passieren, wenn die Iren Anfang Oktober dem Vertrag von Lissabon zustimmen. Wenn sie jedoch nein sagen, wird die Europäische Union wohl 2014 noch fast genauso aussehen wie heute. Barroso wird Europas Gesicht bleiben und weiterhin behaupten, dass er die europäischen Angelegenheiten unter Kontrolle hat. Die Führungspersonen der EU werden weiter daran arbeiten, einen anderen Vertrag auszuarbeiten – dieses Mal ‚von‘ Berlin, Paris oder Stockholm –, um „Europa aus seinem apathischen Schlaf wachzurütteln und es vor die Tatsachen der Herausforderungen der Globalisierung zu stellen“.

Und die Mitglieder des Europäischen Parlamentes werden weiterhin darüber mürrisch knurren, dass man ihnen kein Gehör schenkt. Barroso würde sich dann in einer eigenartigen Situation befinden: Auf der einen Seite unterstützt er den Vertrag von Lissabon ja von ganzem Herzen, aber auf der anderen Seite ist er sich auch dessen bewusst, dass er, wenn dem Vertrag erst einmal alle zugestimmt haben, seine Rolle als Präsident der Europäischen Kommission nur noch am Rande spielen wird. Auf den ersten Blick scheint das alles nach viel Schizophrenie auszusehen, aber man sollte sich von dem äußeren Erscheinungsbild nicht trügen lassen… Barroso weiß nämlich nur zu gut, dass es in diesem Spiel nicht um Macht geht, sondern ganz einfach um die Verlängerung eines wohltuenden und gut bezahlten politischen Techtelmechtels. Wenn ich also auf die grundsätzliche Frage antworten müsste, was die gestrige Wahl Barrosos für die Zukunft Europas bedeutet, so würde ich folgende Antwort geben: Nichts. Marek Magierowski, Rzeczpospolita

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