„Keine Angst vor Gegen-Demokratie“

Veröffentlicht am 9 April 2013 um 10:25

Luuk van Middelaar ist das, was man einen engagierten Beobachter nennt. Der Philosoph und Historiker ist der Autor eines der anregendsten Bücher über die Europäische Union, das in den vergangenen Jahren erschienen ist: The Passage to Europe: A History of a Beginning. Für dieses Werk erhielt er mehrere Preise, u. a. den Europäischen Buchpreis 2012. Allerdings befindet sich der 39-jährige Niederländer seit 2009 auch im Herzen des Systems, das er in seinem Buch analysiert: Er ist einer der Berater und die „Feder“ des Europäischen Ratspräsidenten, Herman Van Rompuy.

Genau diesen doppelten Blick warf Luuk van Middelaar in einem Vortrag im Pariser Europa-Haus Maison de l’Europe auf die Krise und die Veränderungen, welche die Union durchmacht. Einerseits ist die EU derzeit in zwei Hälften gespalten: Jene Länder, die den Euro haben, und jene ohne Euro. Andererseits „schlagen zwei Herzen in Europas Brust: Der gemeinsame Markt und der Euro, die eine immense und oft unterschätze Befugnisübertragung nach sich zogen. Genau daraus ziehen die Staaten derzeit die Konsequenzen – und das ist so manches Mal recht schmerzhaft.“

Demgemäß „wird die europäische Politik“ de facto „zunehmend zu einer Art Innenpolitik“, meint der Historiker, stellt aber auch fest, dass diese Entwicklung nicht nur ein Gleichgewicht zwischen Brüssel und den Landesregierungen braucht, sondern die EU vor allem „auf nationaler und europäischer Ebene eine demokratische Legitimität benötigt“. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, fungiert die europäische Öffentlichkeit in Luuk van Middelaars Augen

als Chor, der die Handlung auf der Bühne nicht nur beobachtet, sondern auch an ihr teilnimmt und sie kommentiert. Mit ihrem Gang zur Wahlurne oder ihrer Beteiligung an Protestmärschen in den Straßen, wird die europäische Öffentlichkeit zum Akteur. Sie sucht Mittel und Wege, um als Öffentlichkeit aktiv zu werden. Dementsprechend sind nationale Wahlen zunehmend von europäischer Bedeutung. Bei der Wahl in Italien ging es beispielsweise um die Diskussion der Frage, wie man sich Europa gegenüber verhält. Mit ihren Stimmen agierten die Italiener aktiv und sendeten eine Botschaft. Man darf keine Angst vor dem haben, was Pierre Rosanvallon die „Gegen-Demokratie“ [La Contre-Démocratie] nennt.

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Die Europawahl 2014 ist entscheidend

Die Europawahl 2014 wird folglich von entscheidender Bedeutung sein. Während sich aber viele dafür einsetzen, dass der Präsident der nächsten Europäischen Kommission aus den Reihen der politischen Familie stammt, die als Sieger aus der Wahl hervorgehen wird, stellt Luuk van Middelaar fest, dass

diese Politisierung die Kommission zwar stärken, genauso gut aber auch ihre Neutralität schwächen kann, auf die sie insbesondere in ihrer Rolle als Hüterin der Verträge nicht verzichten kann. [Im Bereich der] Überwachung der nationalen Haushalte wurden der Kommission neue Aufgaben anvertraut, für welche ihre Neutralität absolut notwendig ist. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage der Öffentlichkeit und ihrer Enttäuschung. Schließlich wird die Kommission weder die Möglichkeit, noch die Mittel haben, das System völlig neu zu gestalten. Ganz allgemein wirft dies die Frage der Exekutive auf: Wer ist in der Lage, Entscheidungen für alle Mitgliedsstaaten zu treffen? Ich bin gegen gute Ideen, die letztendlich doch nicht ganz so förderlich sind. Und genau so eine Idee ist meiner Meinung nach der Vorschlag, den Präsidenten der Europäischen Kommission in einer Direktwahl zu bestimmen.

Nach diesem Vortrag haben wir mit Luuk van Middelaar und dem Team des Europa-Hauses in einem Bistro im [Szeneviertel] Marais weiterdiskutiert. Auf der Karte stand neben dem [französischen Eintopf] pot-au-feu auch die Kalbsniere, vor allem aber die Krise des europäisch-Seins. Eben das, was der Philosoph, Historiker und Politikberater die „Suche nach der [europäischen] Öffentlichkeit“ bezeichnet. „Als wir begannen, Europa zu schaffen, verlor das Wort ‚europäisch’ nach und nach seine Substanz“, erinnert er:

Wir bezeichneten uns nicht mehr als Europäer, weil die Welt des Kalten Krieges in drei Teile geteilt war: Den Westen, den Osten und die Dritte Welt. Das Wort „europäisch“ wurde in diesem Kontext ideologisch aufgeladen. „Die Europäer“ waren jene, die Europa schufen, die in ihrem Inneren [das, was in seinem Buch die gemeinschaftlichen Institutionen umfasst], und nicht so sehr außerhalb [des gesamten europäischen Kontinents] wirkten. Dieses Verhältnis verändert sich ab 1989, mit der Wiedervereinigung Europas, dieser historisch bedeutsamen Bewegung, sowie Phänomenen wie der Hochhaltung der europäischen Fahne oder des Erasmus-Austauschprogramms. In gewisser Weise sind wir noch immer unfähig, uns selbst als Europäer wahrzunehmen. Außer wenn wir uns irgendwo anders auf der Welt befinden. Und obwohl die Krise für neue Spannungen zwischen den Völkern gesorgt hat, beruhen diese Spannungen dennoch alle auf der Tatsache des europäisch-Seins.

Neue Formen der Entscheidungsgewalt

Diese Krise und diese Spannungen – das wissen wir nur allzu gut – stellen die Institutionen und die Führung der Europäischen Union seit drei Jahren auf die Probe. Wie analysiert der Autor des 2009 geschriebenen The Passage to Europe diese Entwicklung?

Der Entscheidungsfindungsprozess ist gleichgeblieben. Der Europäische Rat greift in Ausnahmefällen auch weiterhin ein. Der Unterschied ist, dass das Ganze langfristige Wirkungen hat. Dabei ist es zu tiefgreifenden Veränderungen gekommen. Die Griechenland-Krise hat die gemeinschaftliche Methode auf die Probe gestellt. Aufgrund dieser Tragödie hat sich die Union auf die Suche nach anderen Formen der Entscheidungsgewalt begeben. Ein Weißbuch über die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen kann man nicht einfach so unter Zeitdruck ausarbeiten. Man musste außerhalb der Regelwerke handeln – zumindest zu Beginn – und anschließend den Schock dämpfen – beispielsweise mithilfe integrierter Institutionen.
Mit ihren Entscheidungen haben die Staats- und Regierungschefs eine Kommission geschaffen, die nie zuvor mehr Einfluss und Machtbefugnisse besaß und überwachte, empfahl und umsetzte. Der Europäische Rat ist dagegen auch weiterhin der Ort, an dem die unterschiedlichen landespolitischen Programme koordiniert werden. Für die Zeit nach der Krise, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder kehren wir zu dem zurück, was wir vorher hatten, mit einem Rat, der sich im Hintergrund hält. Oder aber wir machen uns klar, dass sich etwas verändert hat. Und aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir nicht mehr um eine immer intensivere Aufeinanderabstimmung der wirtschaftspolitischen Programme herumkommen.

Hätten die siebenundzwanzig Mitgliedsstaaten die Krise anders bewältigt, wenn es EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, und damit Luuk van Middelaars „Vorgesetzten“ nicht gegeben hätte? „Dann hätten wir eine wechselnde Präsidentschaft gehabt“, antwortet van Middelaars, weist aber nicht darauf hin, dass außer Polen kein einziges großes Land die Ratspräsidentschaft innehatte – anders als die geschwächten Länder Irland und Zypern, sowie das weitgehend in Verruf geratene Ungarn.
„Der Vertrag von Lissabon, [der das Amt des Ratspräsidenten schuf], trat in dem Augenblick in Kraft, in dem die Krise ausbrach. Die Krise und diese Veränderung haben eine [entscheidende] Rolle gespielt. Schwer zu sagen, welchen Beitrag Van Rompuy also wirklich geleistet hat.

Dem Politikprozess vorgreifen

Und welchen Schluss zieht der Denker aus seiner Erfahrung, nachdem er die Seiten gewechselt hat?

„Als ich The Passage to Europe schrieb, war ich überzeugt, dass entscheidende Ereignisse von Außen auf die EU einwirken und nicht aus ihrem Inneren hervorgehen würden. Allerdings bestätigt das meine Analysen zur ereignishaften Natur der europäischen Politik. Politik ist etwas, das sich in langfristigen Prozessen äußert. Und trotzdem kann man ihr [hin und wieder] vorgreifen.“

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