Wenn es ums Regieren geht, hat Angela Merkel ab sofort freie Hand. Was wird sich aber für die Europäer ändern? In Paris erhoffen sich die politischen Verantwortungsträger – wie zu jeder Wahl –, eine Beschleunigung des deutsch-französischen "Motors". Trotz ihrer Verschiedenheiten und Unstimmigkeiten werden die Kanzlerin und Nicolas Sarkozy also versuchen, sich als Führungsduo der Europäischen Union zu positionieren. Wie der ehemalige Außenminister Joschka Fischer erklärt, gibt es dafür einen ganz einfachen Grund: "Die Institutionen sind schwach, die Kommission sehr schwach, der Vertrag von Lissabon befindet sich in der Schwebe. Nur Paris und Berlin können da Mittel- und Schwerpunkt Europas sein. Mann muss sich eben nur einmal den Rest Europas anschauen: Großbritannien hat entschieden, sich rauszuhalten. Italien ist… Italien. Polen geht es gut, aber es hat noch einen langen Weg vor sich. Und Spanien befindet sich in einer ernsthaften Krise."

Mit der wahrscheinlichen Ernennung Guido Westerwelles zum Außenminister wird Deutschland wieder an die Helmut Kohl-und-Hans-Dietrich-Genscher-Ära anknüpfen. Damals bewiesen der CDU-Kanzler und sein liberaler Minister bei der europäischen Integration und der deutschen Wiedervereinigung gemeinsamen Kampfgeist. Jedoch meint die Neue Zürcher Zeitung, Westerwelle werde sich für enge Beziehungen zu Russland einsetzen, was sicherlich zu einigen Spannungen mit anderen Staaten der EU führen wird, besonders im Osten.

In Irland betonen die Gegner des Vertrages von Lissabon, dass der Text für ihr Land eine neue Liberalismus-Welle bedeutet. Ihre Argumente stützen sie auf die bevorstehende Koalition zwischen Christdemokraten und Liberalen in Berlin. Die polnische Tageszeitung Dziennik Gazeta Prawna unterstreicht jedoch, dass es die Kanzlerin schwer haben wird, ihr Land als Wirtschaftsmotor Europas durchzusetzen. Ganz einfach weil die "Kassen leer sind".

Was ist also von Deutschland zu erwarten? Nicht mehr und nicht weniger als von den anderen Ländern auch. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist es trotz der Krise eine Art Ruhepunkt im Herzen der Europäischen Union. Jedoch verdeutlicht das Urteil des Verfassungsgerichts, das zu Beginn des Sommers entschieden hat, dass Berlin das gesetzlich verankerte Recht hat, auf die in Brüssel getroffenen Entscheidungen Einfluss zu nehmen, auch einen anderen Aspekt: Deutschland verteidigt seine Interessen, auch wenn diese nicht immer mit den Interessen der Union im Einklang stehen. Ob Angela Merkel nun Kanzlerin ist oder nicht. E.M.

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