Unser Nachbar Putin

Veröffentlicht am 2 Dezember 2011 um 15:43

Die Krise der Eurozone drängt das Zeitgeschehen in den anderen Ländern in den Hintergrund. Doch am 4. Dezember finden in Russland die höchst symbolischen Parlamentswahlen statt. Über das Ergebnis besteht kaum Zweifel: Trotz verschiedener Unmutsbezeugungen innerhalb der Bevölkerung dürfte die machthabende Partei “Einiges Russland” weiterhin in der Duma vorherrschend sein – wenn auch vielleicht zum Preis eines gewissen Drucks auf die Wähler.

Doch mit diesen Wahlen bricht eine neue Phase in der Macht Wladimir Putins an. Nach mehreren Jahren relativer Ungewissheit darüber, ob nun der als Modernisator geltende Dmitri Medwedew oder doch lieber der herrische Putin der Zukunft Russlands die Richtung weisen soll, wird der einstige Präsident und heutige Ministerpräsident höchstwahrscheinlich im kommenden März wieder Präsident werden. Was natürlich auch Konsequenzen für die EU haben wird.

Indem er Sankt Petersburg gründete, wollte Peter der Große Russland mit Europa verankern, denn es war als Stadt weit westlicher als das zaristische Moskau. Drei Jahrhunderte später scheint der Sankt Petersburger Putin nun die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen zu haben. Am 4. Oktober stellte er sein Projekt einer eurasischen Union vor, das für viele wie der Wunsch klingt, eine Art Sowjetunion zu rekonstruieren. Deren Niedergang vor 20 Jahren bezeichnete er einmal als die “größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts”. Es geht in der Tat darum, die Zollunion zwischen Russland, Weißrussland und Kasachstan auf andere ehemalige Sowjetrepubliken wie Tadschikistan oder Kirgisistan zu erweitern, eventuell auch auf die Ukraine, falls sich letztere für Moskau statt für die EU entscheiden sollte.

Doch diese eurasische Union hat eine größere Tragweite als simple Nostalgie. Sie verdeutlicht Putins Absicht, Russland als kontinentale Macht einzusetzen. Es stünde somit auf halbem Weg zwischen einem Europa, das er nicht mehr als vollwertigen Partner ansieht, und Asien, das ihm Absatzmärkte für Erdgas und Erdöl bietet und ihm als Ausgangspunkt für eine alternative globale Diplomatie dienen kann. Aus der Sicht des Kreml haben China, Iran, Indien und Afghanistan heute mehr zu bieten als die 27, die in ihrer Einstellung gegenüber Russland seit langem geteilter Meinung sind und durch die aktuelle Krise geschwächt wurden.

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Zudem lässt Russland seine Westflanke ja nicht gänzlich im Stich. Es verstärkt seine Präsenz in der Ukraine – einem Land, das Europa gerade vergeblich an seinen Einflussbereich koppeln will. Es hält Weißrussland unter wirtschaftlicher Kontrolle und erlaubt somit das Überleben von Alexander Lukaschenkos Diktatorenherrschaft – ein Fehlschlag für die europäischen Werte. Es schickt sich an, in Kaliningrad, seine Enklave zwischen Polen und Litauen, ballistische Raketen zu stationieren. Kurz, Russland kehrt sich Asien zu und bleibt dabei trotzdem ein Problem für Europa.

Doch das muss nicht so sein. Die Europäer können die Russen nicht ewig als Nachbarn behandeln, vor denen man sich in Acht nehmen muss. Wladimir Putin, der scheinbar weiß, was er will, ist sicher noch lange an der Macht. Diesen Langzeitvorteil muss die Europäische Union dazu nutzen, selbst zu wissen, was sie will. Sie muss eine strenge, doch zugleich offene Politik gegenüber Moskau definieren. Andernfalls wird sie noch ein bisschen mehr an den Rand gedrängt.

Aus dem Französischen von Patricia Lux-Martel

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