Nach Toulouse

Veröffentlicht am 23 März 2012 um 16:25

Das Drama in drei Akten hat Europa schockiert. Der Auftakt war die Ermordung dreier Soldaten nordafrikanischer Herkunft in Toulouse und Montauban im Südwesten Frankreichs. Da wusste man noch nicht, dass zwischen den beiden Taten ein Zusammenhang bestand. Dann wurden drei Kinder und ein Erwachsener vor einer jüdischen Schule in Toulouse erschossen. In der Bevölkerung machte sich die Angst vor einem „einsamen Wolf“ breit, wohlmöglich einem Neonazi. Im dritten Akt belagerte die Polizei über Tage das Haus des Hauptverdächtigen. Schließlich wurde bekannt, dass es sich um einen 23-jährigen Islamisten handelte, einen Kleinkriminellen, der zum fanatischen Mörder wurde.

Die Blutspur von Mohamed Merah bekam deswegen so viel Echo, weil sie mehrere Elemente verbindet, die unserer modernen Gesellschaft eigen sind: Die Faszination für Massenmörder, das alte Schreckgespenst des Antisemitismus und das neue der Islamophobie, die Mediatisierung von Lokalnachrichten, der Wille im Namen der Terrorabwehr die Gesellschaft zu kontrollieren, die Suche nach gemeinsamen Bezugspunkten zwischen alteingesessenen Bevölkerungsgruppen und den Gruppen, die aus der Immigration der letzten 50 Jahre hervorgehen, und natürlich – mitten im französischen Wahlkampf – die politische Instrumentalisierung derartiger Ereignisse.

Mit diesem Maßstab müssen wir kurzfristig den weiteren Verlauf des französischen Wahlkampfes beobachten. Denn dieser wird auch ausschlaggebend dafür sein, welche Maßnahmen auf lange Sicht eingeleitet werden. Schon klagt die französische Linke den französischen Geheimdienst an, weil er Merah nicht gestoppt hat. Schon will Präsident Nicolas Sarkozy das Aufrufen extremistischer Internetseiten strafrechtlich zu verfolgen.

Die Politik scheint genau wie der sonst so moderate Le Monde zu meinen, dass Merahs mörderische Aktion die Frage der terroristischen Bedrohung erneut aufwirft, vor allem was Al-Qaida betrifft. Bis jetzt ist noch nicht bewiesen, dass der junge Mann aus Toulouse Teil einer organisierten Terrorzelle war, auch wenn er Reisen nach Afghanistan und Pakistan unternommen hatte. Sein Lebenslauf steht eher für den Fortbestand einer radikalisierten Randgruppe junger Muslime, die zwar in Europa geboren wurden, sich aber von der europäischen Gesellschaft abspalten und die aus zufälligen und daher kaum vorhersehbaren Gründen Untaten begehen.

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Daher stellt sich erneut die Frage nach den „home grown terrorists”, wie sie die Briten nach den Attentaten in London 2005 nannten, und den nötigen Maßnahmen zur Verhinderung von Terrorakten, die von Tätern begangen werden, die teilweise außerhalb der klassischen Terrorkreise ihren Nährboden finden.

Die erste Frage bedarf einer offenen, toleranten, aber eindeutigen Diskussion über die Art und Weise, wie die europäische Gesellschaft eine Religion akzeptieren soll, nämlich den Islam, die ihren Platz in Europa hat, und gleichzeitig extremistische Verhaltensweisen verurteilen kann, die Misstrauen und Hass schüren. Diese Diskussion muss allerdings die Ungleichheiten anerkennen, mit denen viele Nachkommen von Immigranten (die natürlich auch europäische Bürger sind) in der Schule und bei der Arbeitsplatzsuche konfrontiert werden und unter denen sie leiden. Außerdem muss sie Maßnahmen und Wege identifizieren, wie gegen Rassismus und rechtsextreme Gewalt vorzugehen ist. Die europäischen Werte fordern, dass man gegen diese von La Stampa betitelten „gegensätzlichen Albträume“ in gleichem Maße kompromisslos vorgeht.

Die zweite Frage erfordert Wachsamkeit und Schlüssigkeit gegenüber dem allgemeinen Freiheitsrecht sein. Wachsam, weil die Überwachung von Gesprächen und Internetnutzung heute ebenso inakzeptabel ist wie nach dem 11. September. Schlüssig, weil man nicht einerseits auf die persönlichen Freiheitsrechte pochen und anderseits die Allmacht der Geheimdienste einfordern kann.

Die Diskussion über den Datenschutz ist seit mehreren Jahren in vollem Gange. Einige Länder, ihre Justiz, die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und Organisationen von Internetbenutzern und Menschenrechtler versuchen, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Diese Diskussion darf nicht durch eine zwar bestehende, aber ungenaue terroristische Bedrohung gestoppt werden.

Aus dem Französischen von Signe Desbonnets

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