Der geplatzte Traum vom Schiefergas

Veröffentlicht am 21 September 2012 um 13:50

Jedes Jahr tritt am Ende des Sommers in einigen europäischen Ländern dieselbe Frage in den Vordergrund: Wie hoch wird der Preis des Gases für Heizung und Beleuchtung im Winter sein? 2012 macht da keine Ausnahme. Da einmal kein Mal ist, hat Brüssel auch diesmal die Feindseligkeiten eröffnet, indem es eine Untersuchung in Auftrag gegeben hat, deren Ergebnisse zeigen sollen, ob Gazprom seine Vormachtstellung auf dem Gasmarkt Osteuropas missbraucht. Der russische Gaskonzern liefert 25% seines Gases auch an den europäischen Westen. Einige Länder wie Finnland, die Slowakei und die Baltischen Länder sind zu 100% von ihm abhängig.

Jedes Mal wird die Notwendigkeit einer europäischen Energiepolitik wie auch die Entwicklung alternativer Energiequellen deutlich. Das erklärt, warum die Versuchung, unkonventionelle Reserven der Kohlenwasserstoffausbeutung zu erforschen immer größer wird. Zu ihnen gehört auch das Schiefergas, dessen Vorkommen in Europa hauptsächlich in Frankreich und Polen zu finden sind und sich auf geschätzte 14000 Milliarden Kubikmeter belaufen. Dies ist ausreichend, „um den Gasbedarf der europäischen Staaten für knappe 30 Jahre zu decken, ohne dass man Russland auch nur einen Tropfen abkaufen müsse“, wie der EUobserver schreibt.

Die Versuchung wird nahezu unwiderstehlich, wenn man betrachtet, wie sich die USA dank des Schiefergases innerhalb von 10 Jahren von Importen gänzlich unabhängig gemacht haben (88% ihres Gaskonsums ist nationaler Herkunft, 58% ihrer Erzeugung stellt das Schiefergas) und wie demzufolge der Gaspreis auf das Niveau von 1976 gefallen ist. So ist es auch kein Zufall, dass in Österreich, Deutschland, Frankreich (auch wenn der Präsident François Hollande ein Moratorium bestätigt hat), in Polen, den Niederlanden, Schweden und dem Vereinigten Königreich Sondierungsbohrungen unternommen werden.

Die Hauptschwierigkeit ist das Fracking, die übliche Technik der Erforschung und der Förderung des Schiefergases. Sie ist zur Zeit noch sehr energieaufwändig und umweltverschmutzend. Daher haben sich außer Frankreich auch Bulgarien, Rumänien und die Tschechische Republik dazu entschlossen, die Erforschung erwiesener oder mutmaßlicher Vorkommen einzustellen.

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Die europäischen Institutionen haben Hinsichtlich dieser Frage eine leicht schizophrene Einstellung, was teilweise an der Höhe der auf dem Spiel stehenden Interessen und an dem Einfluss ihrer Repräsentanten in Brüssel liegt.

Anfang September hat die Kommission drei Berichte zu dem Thema veröffentlicht, in denen sie Folgendes beteuert: 1. Dass das „unkonventionelle“ Gas bis zu 60% des Verbrauchs in Europa ausmachen könnte; 2. Dass die Risiken für die Umwelt und die bei der Förderung auftretende Lärmbelästigung hoch seien; 3. Dass das Schiefergas folglich nur in einem stark ordnungsgemäßen Rahmen gefördert werden könne. Allerdings hält sie neue Reglementierungen nicht für nötig.

Am 18. September hat der Ausschuss für Industrie des Europäischen Parlamentes einenvorläufigen Berichtangenommen, in welchem er erklärt, dass die EU sich nicht in nationale Energiepolitik einmischen sollte und dass die Förderung von Schiefergas die Energieabhängigkeit Europas mindern würde und den CO2-Ausstoß im Vergleich zum Kohleabbau um 29 bis 41% herabsetzen würde. Am Folgetag genehmigte der Umweltausschuss einen Vorsatzentwurfmit dem Ziel, die Vorschriften für den Erhalt der Umwelt und der Gesundheit zu verhärten, sowie der Industrie mehr Verantwortung für eventuelle Schäden zu übertragen.

Klar ist, dass ein eventueller Ansturm aufs Schiefergas nur schwer mit den Zielen im Bereich Umweltschutz vereinbar wäre, die sich die EU gesteckt hat: Die Emissionen sollen im Vergleich zu 1990 um 20% gesenkt werden und 20% der verbrauchten Energie sollen bis 2020 aus erneuerbaren Energiequellen stammen — zu denen Gas natürlich nicht zählt. Der Prozentsatz der erneuerbaren Energien soll ab 2020 weiterhin ständig wachsen. Wie auch die anderen Kohlenwasserstoffe ist das Schiefergas auf mittlere oder lange Sicht keine Energie der Zukunft. Seine Förderung läuft auf Kosten der Entwicklung erneuerbarer Energien. Diese sind aber wirtschaftlich nicht profitabel und politisch nur im Kontext eines angespannten Energiemarktes interessant.

Wenn man nun noch den allmählichen Ausstieg aus der Kernenergie in mehreren Ländern hinzufügt, scheint die Gleichung immer schwieriger lösbar, nach der man eine gleichbleibende Energieproduktion haben will, bei der der Teil der erneuerbaren Energien ständig ansteigt, der CO2-Ausstoß und die Abhängigkeit vom Ausland aber immer geringer wird. So ist es auch immer schwieriger, der Verlockung zu widerstehen, die absolut notwendige Energierevolution auf einen „günstigeren Moment“ zu verschieben.

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