Unsere europäischen Gegensätze

Veröffentlicht am 29 März 2013 um 14:22

Ein Zeichen der Zeit? Am vergangenen Sonntag bekräftigte ein Artikel, dass „Angela Merkel Europa den Krieg erklärt [habe] – genau wie Hitler“. Allerdings gehe es diesmal um die Erweiterung des „wirtschaftlichen Lebensraumes“ Deutschlands.

Ein absolut haarsträubender Vergleich. Und dennoch greift er in etwa das auf, was seit längerer Zeit auf den Plakaten in den Straßen Athens steht, und seit kurzem auch Nikosias Transparente schmückt.

Warum der Artikel für so viel Aufregung gesorgt hat? Weil er auf der Internetseite einer der wichtigsten europäischen Zeitungen veröffentlicht wurde: El País. Erstmals eroberte die Gleichsetzung der Bundeskanzlerin mit dem Diktator die sogenannte seriöse und qualitativ hochwertige Presse (auch wenn sie es ‚nur’ auf ihre elektronischen Seiten, und nicht in ihre Print-Ausgaben schaffte).

Angesichts der Reaktionen, nahm El País den besagten Artikel wieder von ihrer Internetseite, zumal ein unabhängiger Kolumnist den Artikel verfasst hatte und dieser folglich nicht der redaktionellen Ausrichtung der Zeitung entsprach.

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Bisher ist die Zypern-Krise noch nicht zu einer Euro-Krise herangewachsen. Allerdings verschärft sie die Gegensätze und die Ressentiments, die Europa eine Verletzung nach der anderen zufügen, seit die wirtschaftliche Depression um sich greift und die Menschen von einem Sparprogramm nach dem anderen erschüttert werden.

Aus dem Misstrauen, das man bisher „Brüssel“ und seinen Bürokraten entgegenbrachte, ist ein handfester Konflikt zwischen Nord- und Südeuropa geworden. Hinzukommt ein giftiger Cocktail aus Misstrauen und Aggressivität gegenüber Deutschland, dem vorgeworfen wird, den anderen Völkern der Union sein Modell und seinen Willen aufzwingen zu wollen.

Verständlicherweise ist auch die europäische Presse von dieser Sichtweise geprägt. Obwohl sie diese auf unterschiedliche Art und Weise reflektiert und es immer darauf ankommt, von welchem Standpunkt aus der ein oder andere Aspekt betrachtet wird. Vielleicht sollten wir daher besser von ‚den europäischen Pressen’ sprechen, um deutlich zu machen, wie viele unterschiedliche Meinungen, Empfindlichkeiten und Erwartungen in den einzelnen Ländern zutage treten.

Diese Artikel, die Titelblätter und all die Kontroversen finden Sie auf Presseurop, dessen Redaktion sich stets darum bemüht, auf all jene Diskussionen hinzuweisen, die unseren Kontinent umtreiben.

Beim Lesen der Kommentare unserer Leser fällt uns auf, dass sich diese Stimmung nicht nur in den öffentlichen Raum eingeschlichen, sondern auch unsere Denkweisen erobert hat. Zahlreiche Leser haben das Gefühl, ihr Weltbild oder ihre Lebensweise verteidigen oder gar rechtfertigen zu müssen.

Einige stellen Europa und seine Konstruktion in Frage. Wieder andere bedauern, dass unsere Artikel und die Diskussionen, die diese auslösen, die Gegensätze nur noch mehr verschärfen.

Europa – und ganz besonders die Europäische Union – durchlebt eine schwierige Phase, in der nicht nur das weltweite Gleichgewicht ins Wanken geraten ist, sondern auch unser politisches, wirtschaftliches und soziales Modell den Boden unter den Füssen verloren hat. Das, was die Europäer seit 1945 aufgebaut haben, macht seither kaum noch Sinn.

Folglich ist es nicht überraschend, dass die tägliche Presse-Lektüre in vielerlei Hinsicht an die Krankengeschichte eines depressiven Patienten mit all ihren pessimistischen und zornigen Momenten erinnert. Das darunterliegende Übel aber ist, dass die Europäer seit Jahrzehnten die Augen vor einer ganz anderen Realität verschließen: Weder wissen sie, noch verstehen sie, was die einen oder die anderen erleben, denken und fühlen.

Sicher ist es nicht nur unangenehm, sich den Klischees und den Verunglimpfungen der anderen zu stellen, sondern obendrein auch noch ungerecht. Aber vermutlich ist genau diese Bewusstwerdung die einzige Möglichkeit, um die Vertrauenskrise zu überwinden, die in der ganzen Union um sich greift.

Verschließen wir auch in Zukunft die Augen vor dieser gegenseitigen Ignoranz, bringen wir uns selbst um die Mittel und Möglichkeiten, dagegen anzukämpfen.
Schließlich erwartet uns trotz all unserer Gegensätze ein gemeinsames Schicksal.

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