Gibt es die Diktatur der Transparenz?

Veröffentlicht am 3 Dezember 2010 um 14:53

In der vergangen Woche veröffentlichten die großen europäischen Zeitungen kleckerweise „cables“ der amerikanischen Diplomatie, die Wikileaks an den Tag gebracht hatte. So „erfuhren“ wir unter anderem, dass der spanische Regierungschef als ein „romantischer Nachtvogel“ gilt, allerdings nicht so sehr wie sein italienisches Gegenstück. Und dass die deutsche Kanzlerin „Teflon" genannt wird und der französische Präsident „empfindlich" sei. Nichts wirklich Neues.

Viel interessanter sind die Reaktionen, die von den Enthüllungen ausgelöst wurden. Auf politischer Seite wurde einhellig verurteilt, wobei sich die Adjektive weltweit überboten. In der Presse und der Öffentlichkeit sind die Auffassungen etwas differenzierter. Die Zeitungen sind einerseits enthusiastisch über den kostenlos zur Verfügung gestellten Informationsregen und gleichzeitig irritiert über die Vorgehensweise, die darin besteht, seine Tagesordnung den Medien aufzuerlegen.

Im Großen und Ganzen sucht man nach den wahren Gründen, die die Organisation um Mitbegründer Julian Assange antreibt. Man zweifelt auch daran, dass das Unternehmen dem Frieden in der Welt zuträglich sei. Oder man rechtfertigt den Geheimniskult, der von der Diplomatie als Bürgschaft ihrer Wirksamkeit kultiviert wird, und der als Symbol der Staatsräson gilt. Somit fürchtet man zu Recht, dass die Kanzlerämter künftig noch mehr Vorsichtsmaßnahmen einführen werden. Man prangert eine „Diktatur der Transparenz" an und geht soweit, zu beteuern, dass es „Dinge gäbe, die die Öffentlichkeit nicht wissen muss“. Kurz gesagt ist es für einen König unangemessen, unbekleidet durch die Gegend zu schreiten, doch es gehört sich nicht, dies zu sagen.

Auf der anderen Seite freut man sich unglaublich, denn das „Cablegate" ist eine Hymne auf die Transparenz, die eine notwendige Folge der Demokratie ist. Denn die Bürger haben das Recht, alles über die Aktivitäten ihrer Machthaber zu wissen, die wiederum die Pflicht haben, ihren Wählern nichts zu verheimlichen. Wie The Economist zusammenfasst, sind „Organisationen wie WikiLeaks das Beste, was man sich wünschen kann, um ein Klima der Transparenz und der Verantwortung zu schaffen, das einer wahren liberalen Demokratie zu Grunde liegen muss". Der König muss unbekleidet gehen, und man muss darüber wachen, dass dies auch so geschieht.

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Es ist wenig verwunderlich, dass die erste Art zu reagieren bei den „Südeuropäern“ verbreiteter ist und die zweite bei den Nordeuropäern (wir mögen hier nicht so gern den Terminus „Angelsachsen" oder „Latinos“). Auch wenn das „Cablegate" mit großer Wahrscheinlichkeit die großen geopolitischen Gleichgewichte nicht umstürzt, hat es immerhin dazu beigetragen, die Diskussion über die Tugend der Transparenz anzuheizen und gezeigt, dass es für die Regierungen dank des Internets immer schwieriger wird, im Dunkeln zu agieren. Nicht weniger als das. (sd)

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