Deutschlands neue Rolle in Europa

Ein tatsächliches Viertes Reich?

Veröffentlicht am 3 April 2015 um 13:44

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Wo positioniert sich Deutschland innerhalb Europas? Und haben seine unterdrückten Nachbarn recht, die seine aktuelle Dominanz mit den finsteren Tagen der Nazi-Regentschaft vergleichen? Darum drehen sich die Fragen, die eine Gruppe von Journalisten in einer Untersuchung, die für das deutsche Magazin Der Spiegel durchgeführt wird, versucht zu beantworten. Sie ziehen Deutschlands problematische Vergangenheit heran, um Europas “Führer wider Willen” paradoxerweise sowohl als zu groß als auch als zu klein zu bezeichnen, um seine aktuelle Rolle ausüben zu können:

Die Eurozone wird ganz eindeutig von Deutschland angeführt, obwohl Berlin nicht unumstritten ist. Es hat jedoch ein gewichtiges Wort über die Schicksale von Millionen von Menschen aus anderen Ländern mitzureden. Eine derartige Macht verlangt die Wahrnehmung großer Verantwortung, aber die [deutsche] Regierung und andere politische Entscheidungsträger benehmen sich manchmal so, als ob sie ein kleines Land führen würden.

De facto hat Deutschland seine politische Dominanz dem wirtschaftlichen Erfolg zu verdanken, aber es ist größtenteils unvorbereitet, wirkliche politische Führung zu übernehmen und sich bei seinen kurzfristigen Interessen kompromissbereiter zu geben, schreiben die Autoren des Spiegel. Seine diplomatische Dreistigkeit ist die Frucht des unnachgiebigen Wunsches, dass sich alle Mitglieder der Eurozone nach den deutschen Grundsätzen von Sparsamkeit und Effizienz richten sollen. Das ist Wasser auf die Mühlen der zunehmend hörbaren Gegner deutscher Vorherrschaft —

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Für fast alle Kritiker der deutschen Politik wurde ein einziges Wort zum Schwerpunkt ihrer Beschwerde: Austerität. Sie weist auf Sparpolitik hin, ein Konzept, das in Deutschland einen guten Klang hat. In den am schwersten von der Schuldenkrise getroffenen Ländern steht sie für eine düstere Politik, [wie] ein von Externen angewiesener Raub. Deutschland exportiert nicht einfach nur seine Waren, es exportiert auch seine Regeln.

In Verbindung mit einer Untersuchung der widersprüchlichen Zahlen aus Griechenland, Italien und Frankreich berichtet Der Spiegel dass die Vergleiche mit dem Deutschen Reich dem Bemühen Deutschlands geschuldet sind, seine eigenen wirtschaftlichen Interessen zu schützen. Obwohl das Magazin derlei Vergleiche ignoriert, [sondern] behauptet, "dass niemand tatsächlich Merkel mit Nazismus in Verbindung bringen würde", ergänzt sie, dass "eine nähere Betrachtung des Wortes "Reich" oder "Imperium" nicht unbedingt gänzlich falsch sei." Denn Deutschland übe zweifelsfrei einen starken Einfluss weit über seine Grenzen hinaus aus, indem es unwilligen Wirtschaftspartnern eine Sparpolitik verordnet.

[[Historische Präzedenzfälle fördern beunruhigende Lehren für die Leiter Europas zutage.]] Deutschlands Zweites Reich, das sich unter Bismarck gründete und das bis zur Niederlage im Ersten Weltkrieg bestand, befand sich in einer prekären Lage: Es war Europas führende Macht, aber dennoch nicht stark genug, um den Kontinent alleine zu beherrschen. Sein Handelsüberschuss beläuft sich aktuell auf 217 Milliarden Euro, gleichzeitig sorgen deutsche Banken für den Export von Kapital, was die wirtschaftlichen Interessen auf Europa ausdehnt. Obwohl Deutschland seine Nachbarn überragt, ist es eindeutig durch einen wirtschaftlichen Zusammenbruch Südeuropas angreifbar. Abermals ist es sowohl zu groß als auch zu klein, um effektiv die Führung übernehmen zu können. —

Die Gläubiger wünschen sich, Macht über ihre Schuldner zu erlangen, denn sie haben Angst. Angst, ihr Geld nicht wieder zu sehen. Deutschland könnte Griechenlands Schulden zahlen, aber nicht jene von Italien und Spanien.

Es bleibt die Frage, was Deutschland als Europas stärkste Nation verbessern kann. Die Autoren kommen zu demselben Schluss wie Hans Kundnani, einem in London ansässigen Fachmann für deutsche Außenpolitik. "Eine wirkliche Hegemonialmacht wie die Vereinigten Staaten" schreibt Kundnani "kreiert nicht einfach nur Normen. Sie schafft Anreize für diejenigen, über die sie herrscht, damit diese Teil des Systems bleiben." Dafür ist ein System nötig, das allen seinen Mitgliedern zugutekommt, und das kurzfristige Ziele zugunsten großmütiger Wirtschaftspolitik aufgibt.

Deutsche Übersetzung von Karen Gay-Breitenbach, DVÜD

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