Der EZB-Präsident bei seiner letzten Pressekonferenz, 6. Oktober in Berlin.

Jean-Claude Trichet: Saldo ausgeglichen

Der Präsident der Europäischen Zentralbank scheidet aus einer Institution aus, die für die Zukunft der Einheitswährung eine grundlegende Rolle spielt. Nach seiner achtjährigen Amtszeit fehlt es der europäischen Presse allerdings nicht leicht, seine Mandatsbilanz zu ziehen.

Veröffentlicht am 31 Oktober 2011 um 17:04
Der EZB-Präsident bei seiner letzten Pressekonferenz, 6. Oktober in Berlin.

Stellvertretend für die ganze europäische Presse stellt Le Temps pünktlich zu seinem letzten Arbeitstag als Präsident der Europäischen Zentralbank (einem Amt, das er seit 2003 innehatte) folgende Frage: “Wird man sich an Jean-Claude Trichet als den Mann erinnern, der den Euro rettete, oder den Zentralbanker, der zu weit gegangen ist?” Trichet “verdient Anerkennung, weil er die Inflationsrate niedrig gehalten und für eine solide Einheitswährung gesorgt hat” meint Anatole Kaletsky in The Times.

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Schaut man sich aber die nationalistischen Spannungen, das Bankenchaos, die Machtkämpfe innerhalb der EZB und die öffentlichen Debatten um den Zusammenbruch des Euro und die Staatsschulden in den EU-Parlamenten an, gerät dies leicht ins Hintertreffen. Trichets ultra-konservativer Bankier-Stil und seine Bemühungen, die von einem Franzosen geleitete EZB in eine noch deutschere Institution umzuwandeln als die Bundesbank selbst, haben in den vergangenen zwei Jahren zum Beinahe-Zusammenbruch der Einheitswährung beigetragen. [...] Euro-Blut an den Händen [des Franzosen]. – The Times

Mit den Worten “Der Euro ist stark, Jean-Claude Trichet kann sich mit einem beruhigten Lächeln zurückziehen” kontert Le Monde dagegen aus Paris. Die Tageszeitung erinnert daran, dass die Spitzenpolitiker ihn “verachteten, [als] er sie mit seinen Grafiken zur Wettbewerbsfähigkeit nervte und ihnen aufzeigte, dass sie geradewegs gegen die Mauer rennen […]. Mit der Finanzkrise haben sie ihre Meinung letztendlich geändert.” Eine der Regierung nahestehende Person gibt zu: “Seit zehn Jahren erklärt er uns, dass Europa mit all seinen unausgeglichenen Haushalten schnurstracks ins Unglück rennt. Das Problem ist, dass man ihm erst seit 2010 wirklich zuhört.”

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Le Monde

Für Le Temps hat “die Schuldenkrise Griechenlands und das dadurch ausgelöst unionspolitische Drama den Bruch ausgelöst”. Sicher hat die Institution die Banken und die Wirtschaft des Kontinents gerettet, indem sie zu Beginn der Finanzkrise im August 2007 ”95 Milliarden Euro in das europäische Finanzsystem pumpte. Und der Franzose erntet Beifall dafür, dass er die seitdem drohende Gefahr erkannte: Die schlimmste Wirtschaftskrise seit Ende des Zweiten Weltkriegs.”

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Das Griechenland-Debakel Anfang 2010 hat ihm die Waffen genommen… Obwohl es ihm Recht gab, nahm es ihm gleichzeitig jede Möglichkeit zum Gegenangriff. Insbesondere weil weder Berlin noch Paris derzeit bereit sind, ihm das Krisenabwehr-Kommando zu überlassen." Ganz plötzlich begriff er, dass er den Euro auch gegen den Willen der EU-Politiker retten muss. Das war zu viel”, verrät ein Berater von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, der anonym bleiben möchte. “Solange es eine amerikanische Krise war, lief alles gut”, erinnert Wirtschaftsexperte Charles Wyplosz. “Als die Krise aber nach Europa überschwappte, verlor die EZB die Kontrolle. Sie schien weder über eine wirkliche Führungsspitze zu verfügen, noch tatsächlich Verantwortung zu übernehmen. – Le Temps

“Trichet scheint sich wesentlich mehr um das Überleben einer Währung zu kümmern, die er anscheinend als seinen persönlichen Verdienst betrachtet, als um die wissenschaftliche Analyse seiner Geldpolitik”, rügt Cinco Días in Madrid. Allerdings “stellt die im Juli 2008 beschlossene Zinsanhebung”, auf welche “die größte Rezession der letzten 60 Jahre” folgte, “das größte Fiasko der EZB dar”, zitiert das Wirtschaftsblatt die einhellige Meinung der Experten.

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Nie hat der EZB-Präsident eine Entscheidung bedauert, die fast die ganze Eurozone wütend gemacht hat. Stets war er wie versessen darauf, die Unabhängigkeit seiner Institution zu demonstrieren. Vermutlich wurde ihm das zum größten Verhängnis. Seitdem die Krise 2008 den Atlantik überquert und einen Großteil des europäischen Finanzsektors zugrunde gerichtet hatte, wurde Trichet immer mehr in die Defensive gezwungen. Allein sein Pragmatismus und seine politische Vision ermöglichten es ihm, Spannungen abzubauen und zur einzigen Persönlichkeit der Union zu werden, der Sarkozy und Merkel Beachtung schenken. – Le Temps

“Wenn jemand von zwei Seiten mit gegensätzlichen Argumenten hart kritisiert wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er irgendetwas richtig gemacht hat. So geht es dem scheidenden EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet”, schreibt das deutsche Handelsblatt. Seinem Nachfolger Mario Draghi übergibt er eine “tadellose Erfolgsbilanz”, meldet das Wirtschaftsblatt und stellt fest:

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Die EZB, die Trichet an Draghi übergibt, ist nicht mehr der Klon der Bundesbank, also eine nur auf den Geldwert fixierte Institution. Wie bei anderen Notenbanken heute ist ihre wichtigste Aufgabe, den Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern, auch wenn das nicht in der Satzung steht. [...] Die heutige EZB ist aber auch nicht eine angelsächsische Notenbank, die trotz formeller Unabhängigkeit Teil der Politik bleibt. Ihr Weg ist der Mittelweg – darin zeigt sich auch die Unabhängigkeit von den Kritikern auf beiden Seiten. Die Grundlinie ist: den Zusammenbruch verhindern, aber nicht durch falsche Großzügigkeit Probleme zudecken, die nur in der Realwirtschaft lösbar sind. Das ist ein schwerer Weg. Doch Draghi sollte ihn weiter verfolgen. – Handelsblatt

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