Boykott der Fußball-EM als Strafe für Kiew?

Fünf Wochen vor Beginn der Fußball-EM 2012, die in Polen und der Ukraine ausgetragen wird, sind die Menschenrechte in der ehemaligen Sowjetrepublik jetzt wieder Titelthema zahlreicher Tageszeitungen. Mehrere deutsche Minister erwägen einen Boykott der Veranstaltung, sollte Kiew die Haftbedingungen von Ex-Ministerpräsidentin Julija Timoschenko nicht verbessern.

Veröffentlicht am 30 April 2012 um 15:22

Diese ist wegen Machtmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt (ihre Anhänger beschuldigen den aktuellen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, sie durch dieses Manöver von der Macht fern zu halten). Die ehemalige Muse der „Orangenen Revolution“ ist seit dem 24. April in Hungerstreik getreten, um gegen ihren Transfer und ihre schlechte Behandlung im Gefängnis zu protestieren.

In Deutschland weist die Süddeutsche Zeitung darauf hin, dass die Ukraine immer stärker unter Druck gerät. Umweltminister Norbert Röttgen rief die deutschen Politiker als Erster zum Boykott der Veranstaltung auf. „Es muss unbedingt verhindert werden, dass das ukrainische Regime die EM zur Aufwertung seiner Diktatur nutzt“ , sagte er. Die Zeitung berichtet, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ebenfalls einen Boykott in Erwägung zieht. Auf der Titelseite der Tageszeitung ist von einem „Frei-Spiel für Timoschenko“ die Rede. Die TAZ kritisiertdie Haltung der UEFA (Vereinigung Europäischer Fußballverbände) in dieser Frage:

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[…] Flagge zeigen, das fällt Funktionären abseits des Sportplatzes immer noch schwer. Doch die UEFA hält sich weiter raus. Sie beharrt auf der Position, dass sie für Politik nicht zuständig sei. Und übersieht dabei, dass schon das Zustandekommen eines internationalen Sportfestes wie der Fußballeuropameisterschaft an sich ein hochpolitischer Akt ist. Es gibt eigentlich nur ein Argument, mit dem die Sportfunktionäre ihre Zurückhaltung erklären könnten: Die bloße Freilassung Timoschenkos macht aus der Ukraine noch lange keine Spitzendemokratie. Aber [es geht] hier um symbolisches Handeln. Mit kleinen praktischen Folgen.

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In Polen, dem Mitveranstalter der EM 2012, titelt die Gazeta Wyborcza: „Deutschlandwettet auf Timoschenko“. Die Zeitung betont, dass die deutschen Politiker, darunter auch SPD-Chef Sigmar Gabriel, die ukrainischen Behörden scharf kritisieren, um ihre eigene Beliebtheit im Hinblick auf die Parlamentswahlen von 2013 zu steigern:

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Die deutschen Politiker sorgen sich weniger um den Zustand Timoschenkos und der ukrainischen Demokratie als vielmehr darum, vor der Erneuerung des Bundestags Punkte zu sammeln. [...] Im Fall des SPD-Chefs kann man durchaus von Heuchelei sprechen. Er protestierte nicht, als sein Vorgänger und politischer Mentor Gerhard Schröder [den russischen Präsidenten] Wladimir Putin als „lupenreinen Demokraten“ bezeichnete. Ebenso wenig kommentierte er den Fall des früheren Oligarchen Michail Chodorkowski, den Putin in den Gulag geschickt hatte. [...] Dabei war dies ein ebenso schockierender Fall wie die Inhaftierung Timoschenkos. [Die deutschen Politiker] fürchten das mächtige Russland und werden sich nicht mit ihm auf eine Polemik einlassen. Doch die Ukraine ist ein Randstaat, ein schwarzes Loch mitten in Europa. Der Boykott der EM 2012 wird der Demokratie in der Ukraine nichts bringen, doch er wird den westlich gesinnten Teil der Gesellschaft davon überzeugen, dass Europa sie im Stich lässt, dass es davon ausgeht, das Land werde unter Janukowytsch in den Autoritarismus abdriften, und dass die Europa-Bestrebungen der Ukraine nur ein Traum waren.

Auch in Dänemark stellt sich die Frage. Infolge der deutschen Boykottdrohung titelt der Jyllands-Posten: „Sollen Regierungen die Fußball-EM boykottieren?“ Doch die Politiker sind zu diesem Thema geteilter Meinung:

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Kulturminister Uffe Elbæck wird abwarten, welchen Standpunkt seine Kollegen innerhalb der EU einnehmen, bevor er entscheidet, ob er in die Ukraine reist, um die dänische Nationalmannschaft zu unterstützen. Der Außenpolitik-Sprecher der Konservativen und ehemalige Außen- und Kulturminister Per Stig Møller zögert hingegen nicht: „[...] das würde der [ukrainischen] Regierung, die Julija Timoschenko Abscheuliches angetan hat, Geltung verschaffen“, erklärte er.

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