Zeitpunkt: günstig. Preisträger: fraglich

Kaum wurde die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU bekannt, reagierte die europäische Presse mit einer Mischung aus Begeisterung und Skepsis. Klar ist: Zu einer Zeit der europäischen Selbstzweifel bestärkt er alle diejenigen, die noch an eine Integration glauben.

Veröffentlicht am 12 Oktober 2012 um 13:51

„Die EU als Friedensnobelpreisträgerin?”, fragt sich die Süddeutsche Zeitung. „Dieser zerstrittene Haufen mehr oder weniger bankrotter Staaten, deren größtes gemeinsames Projekt, die Währungsunion, kurz davor steht, in die Luft zu fliegen? Das ist wieder einmal ein starkes Stück des norwegischen Komitees, das aufpassen muss, dass seine Entscheidungen auf Dauer noch ernst genommen werden.“ Die Münchner Tageszeitung erkennt jedoch den Verdienst des europäischen Aufbaus bei der Friedenserhaltung in Europa an: „Europa bemüht sich redlich, diesen Frieden in die Welt zu tragen.“

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Und doch: Eine tragende Rolle bei der Suche nach Frieden in der Welt spielt die Europäische Union eher nicht, und wie es aussieht, wird es auf absehbare Zeit so bleiben. Denn nicht erst die bitteren Erfahrungen der Euro-Krise haben gezeigt, dass die Europäer, wenn es darauf ankommt, nicht an einem Strang ziehen, dass ihnen das nationale Hemd im Zweifel näher ist als der europäische Rock.

Für die französische Online-Zeitung La Tribune handelt es sich um einen „überraschenden“ Nobelpreis, während Europa doch von der Krise erschüttert ist.

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Diese Schwierigkeiten haben ein Licht darauf geworfen, dass die Völker, über die beschwichtigenden Diskurse der führenden europäischen Politiker hinaus, immer dem nationalen Rahmen verbunden bleiben. Das zeigt sich am Widerwillen der Länder im Norden, allen voran Deutschland, für die Länder im Süden zahlen zu wollen. [...] Paradoxerweise könnte sich durch den Preis die Besorgnis des Komitees hinsichtlich der Zukunft und des Zusammenhalts der EU kundtun. Der Gedanke wäre, gerade dann an den Nutzen der EU zu erinnern, wenn immer mehr an ihr zweifeln.

El Pais zufolge hat die EU eine „unerwartete Belohnung“ bekommen. Die Zeitung erinnert auch daran, dass Norwegen, das den Friedensnobelpreis verleiht, „sich weigert, zum Klub zu gehören, denn es hat den Beitritt 1972 und 1994 durch Volksbefragungen abgelehnt. Umfragen ergeben, dass drei Viertel der Norweger heute dieselbe Wahl treffen würden“.

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Der Frieden ist substantiell für die EU, deren Diplomatie immer [...] nach der besten Lösung vor dem Ausarten von Konflikten oder nach Auswegen für verfahrene Situationen sucht. [...] Die EU hat beim Krieg im Balkan spät und ungünstig gehandelt und die USA haben ihr die Kastanien aus dem Feuer geholt. [...] Bei der Strategie von Zucker und Peitsche, die zu jeder Außenpolitik gehören muss, ist die EU ebenso zaghaft mit der Peitsche wie sie mit dem Zucker gewandt ist. Dieses Handicap war nicht schlecht für eine Union, die sich ganz selbsverständlich in die Flagge der Menschenrechte hüllt.

In Rotterdam schreibt der Chefredakteur des NRC Handelsblad, Juurd Eijsvoogel:

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Der Vorsitzende des Nobelpreiskomitees hatte schon angekündigt, die diesjährige Entscheidung werde für Polemik sorgen. Das wird sie sicher tun, denn die EU steht unter Beschuss. Mit seiner Wahl geht das Komitee ein heikles Thema an, wie schon 2009 als es sich für Barack Obama entschieden hatte. Doch es ist andererseits schwer abzustreiten, dass die EU sehr zum friedvollen Zusammenleben in Europa beigetragen hat.

In einem Kommentar auf der Website des öffentlichen Fernsehens Portugals RTP schreibt die Spezialistin von Antena 1 und Público, Teresa de Sousa, ihrer Meinung nach sei die Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU ...

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... eine Warnung an die Regierungen, die Staatschefs und die europäischen Institutionen, die zu keinem besseren Zeitpunkt hätte kommen können. Sie sollen weiter überlegen, wie sie einen Zusammenbruch Europas verhindern können. [...] Fraglich ist nur, ob die führenden europäischen Politiker dem Preis auch die nötige Aufmerksamkeit widmen werden.

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