Europäische Union

„Cameron legt den Finger in die Wunden der EU“

Europaweit titeln die Zeitungen mit der Europa-Rede David Camerons. Die Presse hält sich mit Kritik nicht zurück und spricht von einem Spiel mit dem Feuer. Aber er stelle auch berechtige Fragen und sei damit nicht allein.

Veröffentlicht am 24 Januar 2013 um 16:20

Zahlreiche Zeitungen eifern einem Großteil der britischen Presse nach und bestätigen, dass Cameron berechtigte Fragen aufwarf, die es nun sowohl auf nationaler als auch europäischer Ebene zu beantworten gilt.

In Paris ist Les Echos der Meinung, dass die Rede Camerons „gefährliche Risiken“ birgt. Für das Wirtschaftsblatt liegt der Vergleich des britischen Premiers mit einer Vorgängerin nahe:

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Wie einst Margaret Thatcher kümmert sich auch David Cameron nicht wirklich um gemeinschaftliche Interessen und die Tatsache, dass die europäische Konstruktion nicht nur ein wirtschaftlich starkes Europa, sondern auch eine politische Union braucht. [Laut Cameron] muss es ein „Europa à la carte“ geben: Man kann Mitglied sein, ohne gleich alle Einschränkungen hinnehmen zu müssen. [Zudem] müsse man der Union angehören dürfen, ohne deshalb den Euro einzuführen, oder das Schengener Abkommen zu unterschreiben. Dabei hat die Eurokrise und das Rettungspaket für Griechenland doch vor allem eines bewiesen: Wie wichtig und notwendig es ist, die Integration der EU-Länder noch weiter voranzutreiben, insbesondere im Hinblick auf die Haushalts-, Steuer- und Finanzpolitik. Und auch wenn dies ganz offensichtlich nicht das Ziel David Camerons ist, müsse es zumindest jenes der 17 Euro-Länder sein.

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In Deutschland titelt Die Welt: „Cameron legt den Finger in die Wunden der EU“. Wie der Großteil der deutschen Presse bewertet die Zeitung die Fragen, die der britische Premierminister in seiner Rede aufwarf, als berechtigt, sogar „befreiend“.

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Cameron steht ja keineswegs allein mit seiner Analyse der Veränderungen, die auf die EU zukommen und die man nicht mit "Weiter so wie bisher" beantworten kann. [...] Darüber muss nicht nur geredet, darüber muss höchstwahrscheinlich auch verhandelt werden. Es ist nicht antieuropäisch, wenn der britische Premier dies zur Sprache bringt. Es ist auch nicht antieuropäisch von Cameron, an die bedrohte Wettbewerbsfähigkeit der Union zu erinnern und dafür unter anderem einige "sklerotische" Zustände im Management der EU verantwortlich zu machen – die überbordenden Regeln und Vorschriften, die viele kreative Kräfte behindern, nicht nur in der Wirtschaft. Und keinesfalls antieuropäisch ist es von ihm, an das schleichende Demokratiedefizit zu erinnern und an das fehlende Vertrauen der Bürger in die EU und ihre Institutionen. [...] Großbritannien geht die EU-Frage mehr "praktisch als emotional" an, sagt Cameron. Das könnte uns allen guttun.

„Großbritannien träumt nicht davon, ein gemütliches und isoliertes Dasein am Rande Europas zu fristen“, meint Gazeta Wyborcza-Kommentator Tomasz Bielecki und erinnert an Margaret Thatchers Europa-Rede von 1988. Wie seine Vorgängerin Thatcher kritisiere Cameron die EU zwar scharf und häufig, setze sich aber gleichzeitig auch leidenschaftlich für den Verbleib Großbritanniens in der EU ein. Ein Brexit wäre außerdem ein verhängnisvoller Betriebsunfall, —

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... der den 27 EU-Ländern einen gewaltigen Schlag versetzen und aus der Eurozone das einzige Zentrum wahrhaftiger Integration machen würde, um welches alle anderen Staaten nur noch ein randständiges Dasein fristen würden. Für uns [Polen] würde dies auf jeden Fall viel mehr Gefahren bergen als für die Briten. Der polnische Zloty hat nicht viel mit dem britischen Pfund gemein, und die britischen Inseln sind nicht wie Polen von nicht immer einfachen Nachbarn umgeben. David Camerons Spiel sollte uns vor allem dazu bringen, schnellstens konkrete Pläne für einen Beitritt zur Eurozone auszuarbeiten.

In Stockholm betont Svenska Dagbladet, dass Cameron nicht der einzige in Europa ist, der die Meinung vertritt, dass „die EU-Mitgliedschaft keinesfalls einer Geisterbahn gleichen dürfe, deren Wagons nirgends anhalten und in der man nicht weiß, wo man letztendlich ankommt“. Die Reaktionen auf seine Rede hält die Tageszeitung dagegen für wenig überraschend: „Überall in Europa wurden Stimmen laut, die klarmachten, dass die EU kein Smörgåsbord [schwedisches Buffet] sei, von dem man sich bedienen kann, wie es einem gerade passt“. Allerdings fragt sich Svenska Dagbladet auch, „ob es tatsächlich nur diesen einen Weg gibt?“

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Schaut man sich an, wie die EU heute funktioniert, lautet die Antwort klar und deutlich: ‚nein’. Schweden bezahlt nicht mit dem Euro, Großbritannien gehört nicht dem Schengen-Raum an. Es gibt zahlreiche Beispiele. [...] Die britische Alternative sieht sich als Gegengewicht zu einer EU, die sich in die unterschiedlichsten Richtungen entwickelt, und die Fragen nach dem „wie?“, dem „warum?“ und dem „zu welchem Zweck“ aufwirft. Dabei sollten genau diese Fragen den Interessen aller Mitgliedsstaaten, und damit auch der Union dienen.

Auf gleicher Wellenlänge bewegt sich România liberă, für die Camerons Projekt einer „flexiblen, anpassungsfähigen und offenen Union“ zwar provokant, aber durchaus ernst zu nehmen ist. Für die Tageszeitung aus Bukarest ist dies —

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...das erste Mal, dass eine europäische Führungskraft eine andere Vision der EU vorstellt, die sich einer stärkeren politischen Integration widersetzt. Eine bescheidenere und liberalere Vision, deren Herzstück vor allem der freie Markt bildet. Bisher war Rumänien stets für die Vereinigten Staaten von Europa und das deutsche Modell der Europäischen Union. Von nun an aber gibt es eine andere Vision. Demzufolge werden unsere Führungsspitzen vielleicht ernsthafte Diskussionen führen und sich fragen, aus welchem europäischen Modell unser Land die meisten Vorteile ziehen könnte – andere Länder werden dies nämlich ganz bestimmt tun.

„Cameron wirft einen Schatten auf die EU“, bedauert De Volkskrant. Nach Meinung der Tageszeitung aus Amsterdam, wo Cameron seine Rede ursprünglich halten sollte, müsste die EU das Projekt des britischen Premiers durchaus Ernst nehmen, zumal sie sich damit ihr eigenes Überleben sichern könnte:

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Es wird sehr schwierig werden, Camerons Anforderungen gerecht zu werden, ohne dabei der europäischen Konstruktion Schaden zuzufügen. Wenn ein Mitgliedsstaat bestimmte Vereinbarungen neu aushandeln will, werden ganz sicher auch andere Länder Ausnahmeregelungen fordern. An einem Austritt Großbritanniens können aber weder die EU, noch die Niederlande interessiert sein. Folglich müssen die EU-Kommission und alle anderen Mitgliedsstaaten die britischen Vorschläge gewissenhaft prüfen. Darüber hinaus gibt die britische Initiative Brüssel zahlreiche Denkanstöße. Es wäre leichtsinnig, sich Hals über Kopf in Integrationsprojekte zu stürzen, wenn diese die Einheit der EU gefährden.

In Madrid stellt Lluis Bassets in El País fest, dass „das britische Europa“ vielmehr einer „einfachen Freihandelszone“ gleicht. Laut dem Kolumnisten ist —

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...die Union für den Premierminister nur ein pures Instrument und kein Ziel. Entweder wird aus der EU etwas, was die Euroskeptiker noch gerade so tolerieren können, oder es wird keine andere Alternative als den Austritt geben. Die Dreistigkeit dieser Erpressung ist beachtlich. [...] Die Konservativen träumen von globalen Beziehungen, für die sie keinerlei Zwischenhändler brauchen. Für sie kommt die EU ausschließlich als Freihandelsraum in Frage, der so wenigen Regelungen wie irgend möglich unterworfen sein sollte. Grundsätzlich ist diese Idee gar nicht so unattraktiv, aber sie stößt auf eine Vielzahl von Hindernisse, von denen die Unfähigkeit der europäischen Länder, darunter auch Großbritannien, in einer globalen Welt eigenständig zu existieren, wohl die größte Schwierigkeit darstellt. Es ist ganz so als [beherberge die EU] die Schwellenländer, und nicht die einstigen europäischen Großmächte. Washington und Peking machen Cameron dagegen ganz ohne Umschweife klar, dass sie ihre Beziehungen zu London lieber über eine solide EU unterhalten.

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